Der wildeste Kerl von allen!

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Obwohl oder gerade weil seine Monster zum Gruseln sind, lieben Kinder Maurice Sendaks Werke. Der „Picasso der Kinder“ starb heuer 83-jährig in Connecticut. Von Manja Altenburg

Harmonisch geht es in Sendaks Büchern nur selten zu, denn Lieblichkeit wiederzugeben war nicht sein Anliegen. Kritische Stimmen wurden laut, als sein Kinderbuch Wo die wilden Kerle wohnen (1963) erschien, unter anderen auch die des Kinderpsychologen Bruno Bettelheim, dass das Buch zu brutal sei. Doch zu Unrecht, denn seit Langem wird das Buch erfolgreich in Therapien mit verhaltensgestörten Kindern eingesetzt.

1928 in New York geboren, wuchs Maurice Sendak als Sohn polnisch-jüdischer Immigranten in Brooklyn auf. Die Erzählungen der Eltern und Verwandten über das Leben in Polen und die Schoa, in der viele von Sendaks europäischen Familienangehörigen umgebracht wurden, sowie seine ganz eigenen Kindheitserlebnisse prägten Sendak. Sie regten seine bildhafte Fantasie sehr an. Darum bezeichnet er die Atmosphäre, in der er aufwuchs, als seinen zeichnerischen Ursprung: „Vor Kurzem habe ich über meine Monster nachgedacht, die mich in meiner Kindheit so sehr erschreckt haben, dass sie mich dazu brachten, ein Künstler zu werden. Ich kann nur einige benennen: natürlich meine Eltern und meine Schwester. […] Und schließlich die Schule, die ich mit einem verzweifelten Abscheu ertrug.“

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In Sendaks Kinderbüchern, bei denen er Bild und Text verantwortet, existiert eine Welt ohne Sicherheit. Oft sind die Protagonisten auf sich allein angewiesen. So fliegt in einem seiner Bücher (In der Nachtküche, 1970) ein Kind allein durch die mondhelle Nacht und gerät dabei in die Hände dreier Doppelgänger von Oliver Hardy. Im Pop-up-Buch Mommy (2006) öffnet auf der Suche nach seiner Mutter ein Säugling die Tür zu einer Gruft. Dort begegnen ihm hintereinander Dracula, Frankensteins Monster, eine lebendige Mumie und ein Werwolf. Erst dann entdeckt er hinter einer Tür seine lebendige Mutter. Auf der Suche muss sich das Baby selbst helfen, damit alle Ungeheuer für einen Augenblick mal friedlich sind: Der Blutsauger wird mit einem Schnuller entwaffnet, dem Monster nimmt er eine Schraube weg und setzt es so außer Gefecht, die Mumie dreht es solange, bis es ihr schwindelig wird, und den Werwolf kitzelt es, so dass dieser kaum mehr angriffslustig ist.

Beim genauen Anblick werden Ängste erbsengroß

Bei der Elternschaft machte sich Sendak mit solchen Büchern nicht sonderlich beliebt. Doch nahm er Kritik von Erwachsenen meist gelassen, so war er der Meinung, dass „Kinder viel emanzipierter sind, vorurteilsfreier als Erwachsene […]“.Und vor allem stellte er fest: „Sie sind das bessere Publikum und die härteren Kritiker. Kinder sagen, was sie denken, und nicht, was sie glauben, was sie denken sollen.“ Als Kinderbuchautor sah er sich in der Verantwortung, die Kinder zu schützen, obwohl das eigentlich niemand vermag, da man „vor dem Leben nicht beschützen kann“. Aber mit einem „glaubwürdigen Buch“, so Sendak, kann man ihnen zumindest „etwas über das Leben erzählen“. Das macht er mit seinem meistverbreiteten Buch Wo die wilden Kerle wohnen, das mit nur 332 Worten und achtzehn Bildern auskommt. Es schildert die Abenteuerreise des Jungen Max, der unartig war und ohne Abendessen ins Bett geschickt wird. Daraufhin träumt er sich in die Welt der wilden Kerle, scharfzähniger, großäugiger Monster, auf die er nach einer langen Seefahrt ganz allein trifft. Er zähmt sie mit nur einem einzigen Trick: Er schaut ihnen direkt in die Augen „ohne ein einziges Mal zu zwinkern“. Dafür nennen sie ihn „den wildesten Kerl von allen“, beginnen zu tanzen und sich zu raufen, bevor Max in sein Kinderzimmer zurückkehrt, wo das Nachtessen steht – „und es war noch warm“.

Genau das ist es, was Sendak als glaubwürdig bezeichnete: die Bereitschaft, den eigenen Ängsten zu begegnen, ohne wegzublicken, und das Vermögen, mit diesen spielerisch umzugehen, um die Ängste auf Erbsengröße zusammenschrumpfen zu lassen. Sein spielerischer Umgang damit äußerte sich darin, aus ihnen große Kunst zu formen.

Ein weiteres seiner Werke ist das Bilderbuch Brundibar (2003). Hier setzte er gemeinsam mit Tony Kushner die gleichnamige Kinderoper, die im Getto Theresienstadt komponiert und 1944 von Kindern aufgeführt wurde, die später größtenteils umkamen, in Bildform um.Maurice Sendak Buchcover Wo die wilden Kerle wohnen

Einerlei, was er weiter veröffentlichte, sein berühmtestes und sein beliebtestes Buch blieb Wo die wilden Kerle wohnen, das 2009 von Spike Jonze verfilmt wurde. Er erhielt viele Preise für dieses Buch, darunter auch den bedeutendsten Kinderbuchpreis der USA, die Caldecott Medal. Die größte Kulturauszeichnung des US-Kongresses, die National Medal of Arts, wurde ihm 1996 für sein Gesamtwerk überreicht.

Maurice Bernard Sendak ist im Mai  2012 im Alter von 83 Jahren gestorben.

Zur Person

Maurice Sendak 1928 in New York geboren, wächst er mit den Geschichten seiner Eltern aus den europäischen Schtetln auf. Von frühester Kindheit an wollte er Buch-illustrator werden und zeichnete sein erstes Buch bereits als Sechsjähriger. Nach seinem Schulabschluss wurde er Dekorateur in einem Spielzeugladen und studierte nebenbei Kunst. Als sein erfolgreichtes Buch Wo die wilden Kerle wohnen erschien, wurde er als der „Picasso der Kinder“ gefeiert. Sein spätes Coming Out begründete er einerseits mit der Rücksichtnahme auf seine Eltern und andererseits mit seinem Beruf. Er lebte mit dem Psychoanalytiker Eugene Glynn bis zu dessen Tod 50 Jahre zusammen. Sendak wurde für sein Werk vielfach ausgezeichnet.

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