Der Wurstverkäufer vom Mograbi oder die Geschichte von der Not und dem Erfindungsreichtum

Machen uns Krisen stark? Sie holen uns jedenfalls aus unserer Komfortzone und fordern unsere Kreativität, das hat das letzte halbe Jahr wieder bewiesen. Viele plötzlich arbeitslose Israelis, die weiter ihre Miete begleichen und den Kühlschrank füllen wollten, mussten sich da schon was einfallen lassen. Die Situation erinnert oft an frühere Krisenzeiten und Überlebenskünstler. So etwa an Fritz Gerstmann, den legendären Würstchenverkäufer von Tel Aviv.

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Michal Serr machte ihr Hobby zum neuen Beruf und gründete das „House of Plants TLV“ für spezielle Topfpflanzen, die sie im Internet vermarktet. © Daniela Segenreich-Horsky

Etwa eine halbe Million Israelis sind noch immer ohne Job oder auf unbezahltem Urlaub. Gil Moran, noch zu Anfang des Jahres Generaldirektor einer Hightechfirma, begann nach seiner Entlassung im Zuge der Corona-Krise, in seiner nicht enden wollenden Freizeit nach alten Rezepten seiner Mutter zu backen. Mittlerweile hat er großen Erfolg als Konditor. Sein Hit ist die dreiteilige Torte, die ursprünglich aus purem Zufall und aus Mangel an Zutaten entstand und seinen Kunden die Möglichkeit gibt, drei völlig verschiedene Torten in einem zu erstehen.
Michal Serr und Shir Portmann arbeiteten im Eventmanagement und in der Musikproduktion, beides nicht gefragt zurzeit. Während Shir ihr seit Corona drastisch gesunkenes Einkommen mit dem Backen und Verkaufen von „Chocolate Chip Cookies“ aufbessert, machte Michal ihr Hobby zum neuen Beruf und gründete das „House of Plants TLV“ für spezielle Topfpflanzen, die sie im Internet vermarktet. Die Kleinunternehmen der beiden Freundinnen blühen und gedeihen, und die Käufer erstehen oft auch gleich einen Blumentopf mit den Keksen für den Schabbat. Die Anzahl ähnlicher Beispiele ist hoch, der Erfolg aber leider nicht immer garantiert.
Das Konzept mit dem Erfinderischsein ist nicht neu und musste leider schon in vielen Krisenzeiten erprobt werden. Als Vorbild für das Umdenken in Folge einer Notsituation kann Fritz Zeev Gerstmann dienen, der legendäre Verkäufer von heißen Würstchen vor den Stiegen des inzwischen abgerissenen Tel Aviver Mograbi-Kinos, Ecke Allenby- und Ben-Jehuda-Straße. Gerstmann, Sänger an der Wiener Staatsoper, war 1934 nach Tel Aviv gekommen und konnte im jungen Staat wegen des damals noch sehr beschränkten Kulturbudgets und wohl auch wegen seines starken Akzents in seinem Beruf nie mehr richtig Fuß fassen. Es gibt aber bis heute noch Interviews, Fotos und einige Tonaufnahmen von ihm, unter anderem die Aufnahme eines hebräischen Liedes für die Soldaten.

Fritz Zeev Gerstmann war Sänger
an der Staatsoper und kam 1934 nach
Tel Aviv. Da es mit dem Singen nicht klappen wollte, verkaufte er Würstchen.

Auf der Facebook-Seite über das einstige Tel Aviv schwärmen unzählige seiner Fans bis heute von dem unvergesslichen Duft der frischen Würstchen, die der geborene Wiener in einem großen Kessel warm hielt und die von den Passanten genussvoll mit frischen Brötchen und Senf verzehrt wurden. Beinahe täglich und oft bis spät in die Nacht pries er mit sonorer Stimme seine Ware an: „Lachmania im Naknikia be Grusch“ (eine Semmel mit Wurst um einen Piaster). Dazu wünschte er seinen Kunden des Öfteren auf Deutsch einen „Guten Appetit“. Und wenn es gerade nichts zu tun gab, saß er in seinem weißen Kittel und der Chefhaube auf seinem Klappschemel und las deutsche Literatur.
„Was für eine Frage, wer erinnert sich nicht, das waren die besten heißen Würstchen von Tel Aviv!“ – „Ich habe noch bis heute den Geschmack auf der Zunge!“ – „Ich stand auf der Seite und sah zu, aber ich hatte kein Geld, um etwas zu kaufen …“ – „Er war ein netter, ruhiger Mensch, mein Vater unterhielt sich immer auf Deutsch mit ihm, wenn wir nach dem Kino dort unsere Würstchen mit Senf kauften“, kann man in zahlreichen Reaktionen auf die Frage „Wer erinnert sich an den Würstchenverkäufer vom Mograbi?“ auf der fb-Site White City Tel Aviv lesen.

Das Konzept mit dem Erfinderischsein ist natürlich nicht neu und musste leider schon in vielen Krisenzeiten erprobt werden.

Schnapp zu und iss! Für Kultur und speziell für teure Opernproduktionen gab es im Palästina der Dreißiger- und Vierzigerjahre nur wenig Budget. Nach seinem ersten Job als singender Kellner im damals populären Café Lawrence in Jaffo schlug sich der Wiener Sänger anfangs mit Solokonzerten und anderen kleinen Auftritten durch. Manchmal sang er auch als Kantor in der großen Synagoge in der Ben-Jehuda-Straße. In dieser Zeit gründete Benno Fränkel, ein Regisseur aus Deutschland, mit einigen weiteren Künstlern die Kammeroper Palästina, und Fritz Gerstmann bekam die Rolle des Jago in einer Othello-Produkt. Die Kritiken waren gut, aber dennoch ging den Initiatoren schließlich das Geld aus. Fränkel musste übrigens selbst zeitweise seinen Unterhalt mit Straßenbauarbeiten aufbessern. Um auch ohne Bezahlung mit den Vorführungen weitermachen zu können und trotzdem auch ein Einkommen zu generieren, gründeten 12 Künstler und Mitarbeiter der Oper eine Kooperative mit dem Namen „Chtof we Echol“ (Schnapp zu und iss!). Die Tel Aviver Stadtverwaltung unterstützte das Unternehmen, indem sie jedem von ihnen eine Lizenz zum Verkauf von Würstchen gewährte, jedem in einem anderen Viertel von Tel Aviv.
Fritz Gerstmann erhielt die Erlaubnis, seine Würstchen in der Gegend des Mograbi-Kinos zu verkaufen, wobei diese spezielle Lizenz auch „das Anpreisen der Ware durch Singen“ erlaubte. Und so verkauften die zwölf der Kooperative untertags heiße Würste und sangen am Abend ihre Rollen in Verdis Othello und anderen Stücken.
Die Arbeit war nicht leicht, und die meisten Mitglieder der Kooperative hielten auf die Dauer der doppelten Belastung nicht stand. Viele von ihnen gaben auf, verließen das Land oder suchten sich eine andere Beschäftigung. Gerstmann machte weiter und verköstigte die Straßenpassanten ganze 25 Jahre lang, bis zur Mitte der Sechzigerjahre, mit frischen „Heißen“. Damit wurde er für viele zu einer Ikone des alten Tel Aviv. Der bei seiner Einwanderung schon über Vierzigjährige soll immer ruhig und angenehm gewesen sein, doch ob er glücklich war mit seinem Würstchenkessel, das bleibt zu bezweifeln. In einem Radiointerview aus dem Jahr 1959 beim Sender Kol Israel sagte er einmal: „Es war nicht mein Lebenstraum, und die Arbeit war nicht leicht, man musste ja bei jedem Wetter, in der Sommerhitze und im Regen im Winter, draußen stehen.“ Er gab zu, sich manchmal gefragt zu haben, wie er in diese Lage gekommen war. Aber er beklagte sich nicht und war wegen seines Schicksals nicht verbittert.
Der Hobbykonditor Gil Moran denkt bereits darüber nach, auch nach der Corona-Krise bei den Torten zu bleiben, doch Fritz Gerstmann hätte wohl lieber seine Opernkarriere weiterverfolgt.

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