Die Auswirkungen von Migration

Wie man sich mit spärlichem Material eine Familienchronik bastelt, zeigt der Historiker Pablo Rudich in seiner Masterarbeit auf.

1870
Pablo Rudich (rechts) mit seinem Vater Wolf Ruddich und seinen drei Geschwistern. © Pablo Rudich/privat

Es gab weder Briefe noch Tagebücher, und dem persönlichen Gespräch über die Jugend in Wien verweigerte sich der jüdische Vater im uruguayischen Exil. Dennoch wollte der Sohn, der 1964 in Montevideo geboren wurde und 1978 in die Geburtsstadt seines Vaters übersiedelte, die Familiengeschichte recherchieren. Als Historiker wählte Pablo Rudich für die Spurensuche zum Lebensweg seiner jüdischen Großeltern und seines Vaters den akademischen Zugang: In seinem Buch Dazwischendasein. Jüdisches Leben zwischen Czernowitz, Wien und Montevideo stellt er das Schicksal einer jüdischen Familie exemplarisch in den größeren Zusammenhang von Vertreibung, Flucht und Exil.
Die „globale“ Bukowina und Czernowitz, die Kriegsflüchtlinge im Ersten Weltkrieg sind ebenso Thema wie die „Zugehörigkeit und Identitätskonstruktionen im Lichte von Staatsbürgerschaft und Heimatrecht“. Aber auch Zufälle interessieren Rudich: „Ich war dreizehn Jahre alt, als ich in Wien ankam, mein Vater Alfred Rudich dreiundfünfzig. Als er 1938 gezwungenermaßen aus Wien fliehen musste, kam er als Dreizehnjähriger in meiner Geburtsstadt Montevideo an, sein Vater, Wolf Rudich, war damals dreiundfünfzig“, erzählt der Autor. Dem Vater sollte es auch nicht nützen, dass er seine Erinnerungen verdrängte und diese seinen Kindern vorenthielt. „In der Gegenwart holt uns des Vaters Vergangenheit ein. Wie aus Zufall hat jedes von uns vier erwachsenen Kindern nun eine Wohnung im 2. Bezirk, der Leopoldstadt“, so Pablo. „Ein großer Teil dieses Bezirks ist seit der Anlage des ersten jüdischen Ghettos Anfang des 17. Jahrhunderts mit der Geschichte der Juden und Jüdinnen eng verbunden.“

Pablo Rudich:Dazwischendasein. Jüdisches Leben zwischen Czernowitz, Wien und Montevideo. Mandelbaum Verlag 2019, 142 S., 20 €

Die Großeltern des Historikers, Serafine König und Wolf Rudich, stammten aus Czernowitz, aus dem östlichen Randgebiet der Habsburgermonarchie. Die Hauptstadt der Bukowina, ein Hort des blühenden jüdischen Lebens, der Vielsprachigkeit und einer immens reichen Kulturtradition, gehört heute zur Ukraine. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 mussten die Großeltern vor einer russischen Offensive nach Wien flüchten. 1918 kehrten sie vorübergehend nach Czernowitz zurück, ließen sich aber später in Wien an verschiedenen Adressen nieder. „Mein Großvater war Jurist, viel mehr ist den vorhandenen Quellen nicht zu entnehmen. Nur dass ein beträchtlichen Teil von ‚Buko-Wienern‘ damals in Wien lebte“, lacht Pablo Rudich, der später auch in Barcelona und Stuttgart lebte.
In dieser Masterarbeit, die zum gut leserlichen Buch wurde, bemüht er sich, das Schicksal von Jüdinnen und Juden mit ähnlich gelagerten Lebenssituationen nachzuzeichnen. „Diese Untersuchung hat den Anspruch, nicht nur die Frage der jüdischen Identität zu behandeln, sondern in einem breiteren Sinn den Fokus auf die Auswirkungen von Migrationen auf die individuelle und kollektive Identität der betroffenen Menschen zu lenken“, schreibt Pablo Rudich. Er stellt sich angesichts der – erzwungenen – kosmopolitischen Lebenssituation seiner Familie die Frage, wie Migranten von ihrem Zielland beeinflusst werden und umgekehrt dieses beeinflussen. „Dass dieser kulturelle Austausch negative Folgen haben soll, ist ein manipulatives, häufig von Angst schürenden Politikern hervorgebrachtes Argument“, lautet das Fazit des Historikers.

Pablo Rudich, der auch als Fremdenführer tätig ist, hat zwei Söhne und eine Tochter; seine Schwester Julieta Rudich ist Lateinamerika-Expertin im ORF-Fernsehen und gestaltet umfassende Reportagen für das Weltjournal. „Obwohl der Vater uns nie explizit etwas von jüdischer Identität mitgegeben hat, sind wir ohne eindeutige Absicht im bis 1938 jüdischsten Viertel Wiens angekommen, man könnte auch sagen ‚beheimatet‘. Und das, obwohl die Rückkehr meines Vater nach Wien für seine Kinder zu einer Entwurzelung von deren eigenem Geburtsland Uruguay führte.“ Prägend war für die vier Rudich-Geschwister auch, dass sie aus einer nomadischen Genealogie stammen und zwischen 1973 und 1978 dreimal das Land gewechselt haben. „So wird für mich die wiederholt gestellte Frage, woher ich bin, zu welchem Land ich mich zugehörig fühle, immer schwerer zu beantworten.“

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