WINA:Bei der WIZO-Gala in Wien haben Sie über sexuelle Gewalttaten am 7. Oktober gesprochen, ein Thema, zu dem Sie weltweit Vorträge halten und Interviews geben. Wie sehr hat dieser Tag und seine Folgen Ihr persönliches Leben verändert?
Ruth Halperin-Kaddari: Mein Leben und meine Karriere haben sich wirklich total verändert. Meine zwölf Jahre im CEDAW Committee (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women) bei der UN haben mir ein tiefes Verständnis für die Arbeit der internationalen Menschenrechtsorganisationen vermittelt und auch für viele Verbindungen gesorgt. Außerdem hat mir meine Arbeit als Direktorin des Rackman-Centers für die Verbesserung des Status der Frauen in Israel viele Kontakte zur israelischen Regierung geboten, und so hat mir all das eine einzigartige Position verschafft, die es mir erlaubt, auf eine Weise tätig zu sein, die anderen vielleicht nicht zur Verfügung stand.
Wie hat sich dieses Netzwerk konkret ausgewirkt?
I Das beste Beispiel dafür ist die auf meine UN-Zeit zurückgehende Freundschaft mit Pramila Patten, der UN-Sonderbeauftragten für sexuelle Gewalt bei Konflikten. Gleich nach dem schrecklichen Schabbat (am 7. Oktober, Anm.) wurde mir klar, dass ihre Position für unser Anliegen an der internationalen Menschenrechtsfront am wichtigsten ist. Ich habe sie angerufen, aber es hat natürlich Zeit und Mühe gekostet, bis sie nach Israel kommen und die Fact Finding Mission leiten konnte, die als offizieller Bericht dafür dient, was tatsächlich im Bereich sexueller Gewalt am 7. Oktober passiert ist. Nur wegen meiner persönlichen Bekanntschaft mit ihr konnte ich die Entscheidungsträger in Israel trotz des üblichen Misstrauens gegen UNKörperschaften von Pattens professioneller Integrität überzeugen und dadurch erst diesen Prozess ermöglichen. Da wurde mit bewusst, dass ich auf Grund meines internationalen Rufs, und auch weil ich nicht zur Regierung gehöre und dadurch vertrauenswürdiger erscheine, diese Rolle übernehmen muss, obwohl CRSV (Conflict Related Sexual Violence) nicht mein Spezialgebiet war. Aber das änderte sich eben und damit mein Leben nach dem 7. Oktober. Zum Glück nur in dieser Hinsicht und nicht so katastrophal wie für viele andere.
Wir alle aber mussten feststellen, dass besonders die zuständigen Stellen der UNO mit geradezu dröhnendem Schweigen auf die sexuelle Gewalt am 7. Oktober reagierten. Haben Sie dafür eine Erklärung?
I Dafür gibt es keine einfache Erklärung, und wir dürfen nicht verallgemeinern. Die UN ist kein monolithischer Block, sondern besteht aus verschiedenen Organisationen. Zu viele von ihnen haben aber viel zu lange geschwiegen, besonders jene, die da reagieren hätten müssen. Meine größte persönliche Enttäuschung betraf aber mein ehemaliges CEDAW-Komitee, das ich ganz früh zu einem Statement aufforderte. Als es dann nach Wochen endlich kam, war es niederschmetternd. Kein Wort über Hamas, Israel und sexuelle Gewalt. Es sagte nur: Die Sache des Friedens ist die Sache der Frauen. Ich verglich die Reaktionen der entsprechenden UN-Frauenorganisationen mit anderen Schauplätzen. Nach dem russischen Massaker in Butscha dauerte es nur einige Tage, bis sich die russischen Truppen zurückgezogen hatten und die Welt erfuhr, was dort geschehen war. Allein daran sieht man bereits den „Double Standard“ und die Vorurteile gegenüber Israel.
Kann man die beiden Massaker tatsächlich vergleichen?
I Nur bedingt. Denn was den Fall des 7. Oktober so herausfordernd macht, ist, dass die meisten Opfer der sexuellen Gewalt nicht überlebt haben. Die wenigen Überlebenden wurden in Geiselhaft genommen, und die ganz wenigen, die in Israel überlebten, sind bis heute nicht in der Lage, darüber zu sprechen. In der Ukraine gab es Überlebende, die sagten: „Ich wurde vergewaltigt.“ Jetzt hat die mutige Amit Susana berichtet, wie sie in der Geiselhaft vergewaltigt wurde, aber vom 7. Oktober selbst gibt es solche Zeugnisse nicht. Mitte November 2023 hat die israelische Polizei in einer Pressekonferenz für die internationalen Medien die Tonaufnahme einer Augenzeugin präsentiert, die sich während der Attacke auf das Nova Festival in den Büschen versteckt hielt. Von dort aus sah sie Massenvergewaltigungen und andere schreckliche Dinge. Spätestens da hätten UN-Frauenorganisationen die Welt aufrufen müssen, diese Dinge zu verurteilen. Und sie taten es nicht. Und sogar als Pramila Patten ihren Bericht veröffentlichte, der wirklich ein Gamechanger war, weil er das erste Mal offiziell festhielt, dass es Massenvergewaltigungen an zumindest drei Orten gab und weiterhin sexuelle Gewalt gegen Geiseln ausgeübt wird, gab es nach langer Zeit nur ein sehr vages Statement. Und sogar nachdem Amit Susana ihr persönliches Zeugnis ablegte, und nach dem Mord der sechs Geiseln, wovon eine weiblich war, sagten die UNFrauen nichts. Das ist ganz klar Double Standard, vor allem wenn man es mit Berichten über Frauen und Kinder in Gaza vergleicht, deren Tragödie ich keine Minute leugnen möchte. Aber das ist kein Leidenswettbewerb, kein Opferwettbewerb. Wenn diese internationalen Organisationen aus politischen Gründen ein klares Verbrechen gegen die Menschlichkeit, besonders gegen den weiblichen Körper, nicht verurteilen, geben sie Terroristen gleichsam einen Freibrief. Sie sagen ihnen damit: Wenn ihr Euch als Freiheitskämpfer deklariert und alle Opfer tötet, sodass es keine Beweise gibt, könnt ihr damit durchkommen.
Sie etablierten in Israel das so genannte DINAH-Projekt, benannt nach der biblischen Dinah, die entführt, vergewaltigt und von ihren Brüdern grausam gerächt wurde. Was ist dessen wesentliches Ziel?
I Gleich zu Beginn des Krieges gab es einige Expertinnen, die aktiv wurden, um israelische Stellen, z. B. Spitäler oder auch die Leichenhäuser, darauf aufmerksam zu machen, Beweise zu sammeln und sicherzustellen, aber auch um internationale Aufmerksamkeit zu erhalten. Wir, sechs professionell erfahrene und vernetzte Frauen, haben uns dann entschlossen, ein Projekt innerhalb des Rackman-Centers an der Bar-Ilan-University zu etablieren. Wir führen selbst keine Untersuchungen durch, sondern versuchen Puzzlesteine zu finden und zusammenzufügen. Unsere Mission ist es Rechenschaft, Anerkennung, Verantwortlichkeit und Gerechtigkeit für die Opfer der sexuellen Gewalt vom 7. Oktober zu erreichen, auch in Hinblick auf die Defizite der internationalen Gesetzeslage. Das Gesetz muss hier einen Paradigmenwechsel vollziehen, um zu verstehen, dass CRSV sich von häuslicher sexueller Gewalt unterscheidet. Wenn man nur Beweise für Vergewaltigungen sucht, wird man keine finden, weil die Opfer zusammen mit den Beweisen begraben wurden. Es gab keine forensischen Untersuchungen, denn es war ein Kriegsgebiet, und in den Leichenhallen war man auf die unglaublichen Szenen aus der Hölle nicht vorbereitet, um die hunderten Opfer zu identifizieren und zu begraben. Soll dieser Mangel an Beweisen bedeuten, dass man keine Gerechtigkeit erwarten kann?
Was kann da ein solches Projekt konkret bewirken?
I Wir sind jetzt die führende Quelle für diesen Aspekt des 7. Oktober. Wir bereiten einen Bericht für den Internationalen Menschenrechtstag am 10. Dezember vor. Wir haben alle Informationen, Zeugenaussagen, Fotos, Videos – die Steine des Puzzles – gesammelt und sie nach dem Beweiswert in verschiedene Kategorien geordnet, und wir analysieren die bereits existierenden Berichte von UNO und NGOs. Unser Ziel ist der Kampf gegen das, was ich die zweite Phase der Verleugnung nenne. Es wird nicht mehr geleugnet, dass es vielleicht Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt gab, jetzt wird gesagt, diese Dinge waren sporadisch, es war oft gar nicht die Hamas, sondern der Mob, und damit zu leugnen, dass Hamas sexuelle Gewalt kollektiv, strategisch und vorsätzlich als Kriegswaffe einsetzte. Unser Ziel ist es, in unserem Bericht Informationen dahingehend als juridische Beweise zu argumentieren.
„Das ist kein Leidenswettbewerb,
kein Opferwettbewerb.“
Ruth Halperin-Kaddari
Welche Bestrafungen können Sie sich für diese Verbrechen und die Verantwortlichen vorstellen?
I Um Gerechtigkeit zu erreichen, gibt es nicht nur das Strafgesetz. Es gibt auch die historische Gerechtigkeit. Wir hoffen, dass Pramila Patten wieder nach Israel kommt und ihre Arbeit fortsetzt, und dass wir auch die israelischen Ankläger überzeugen können, bei eventuellen gerichtlichen Verfahren gegen die Terroristen die Anklage wegen sexueller Gewalt einzubeziehen. Letztlich ist es ein Ziel des Dinah-Projekts, dass auch die UN die Hamas endlich als Terror-Organisation anerkennt und auf die Schwarze Liste derer setzt, die sexuelle Gewalt als Kriegswaffe einsetzen, was zu weiteren Sanktionen gegen die Verbündeten der Hamas führen könnte, die sie finanzieren und unterstützen. Weiters ist es unser Ziel, dass die Hamas-Terroristen, die am Massaker beteiligt waren und jetzt in israelischen Gefängnissen sitzen, vor Gericht gestellt und kollektiv für alle Verbrechen des 7. Oktober inklusive der sexuellen Gewalt und geschlechtsspezifischer Gräueltaten verantwortlich gemacht werden.
Sie haben vor 20 Jahren ein Buch über Frauen in Israel geschrieben und sich an Ihrem Center für die Verbesserung des Status der Frauen im Land eingesetzt. Ist da im Gefolge der Ereignisse in der israelischen Gesellschaft ein Backlash zu beobachten?
I Wir befinden uns in einer sehr schwierigen Ära, in der Frauenrechte weltweit attackiert werden. Wir sehen das jetzt in Amerika, aber in Israel begann die Verschlechterung schon vor Jahren durch den Aufstieg der rechtsgerichteten Regierung, die von sehr, sehr konservativen Kräften kontrolliert wird, zu denen orthodoxe und religiöse Fundamentalisten zählen. Das gesamte Phänomen von Geschlechtertrennung und Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Raum und öffentlichen Funktionen wächst, und die Situation ist sehr alarmierend. Die Frauenquote im Parlament ist gesunken, und die Frauen, die Machtpositionen innehaben, sind leider kaum weniger antifeministisch als ihre männlichen Kollegen. Leider hat der 7. Oktober alles noch verschlechtert. Die Fälle von häuslicher Gewalt haben zugenommen und jetzt, während des Krieges in Israel mit so vielen Betroffenen, Menschen, die umgesiedelt wurden, Männern und Frauen, die Monate in der Reserve dienen, Männern, die traumatisiert vom Schlachtfeld zurückkehren, hat all das eine direkte Auswirkung auf den Anstieg von Gewalt. Der Innenminister hat eine fast unkontrollierte Zulassung von Waffen erlaubt, und das steigert, wie wir wissen, die Gefährdung der Frauen durch ihre Partner.
Es ist ein Kampf an sehr vielen Fronten.
I Ja. Ich glaube, den Kampf um Anerkennung unserer Ziele an der internationalen Front können wir gewinnen. Aber die viel herausforderndere Front ist der israelisch-palästinensische Konflikt, und da bin ich nicht sehr optimistisch. Ich denke, es wird Jahrzehnte und Generationen brauchen, denn der 7. Oktober hat für lange Zeit alles verändert. Ich bete und hoffe, dass die Führung zur Vernunft kommt und in die richtige Richtung geht, aber ich fürchte, das werden wir in näherer Zukunft nicht erleben.