Die Israelische „Normalität“

In einer Zeit und einem Land, in dem das unmöglich Geglaubte seit über einem Jahr zum grausamen Alltag geworden ist, wirken auch die alltäglichsten Dinge grauenhaft grotesk. Hier ein kurzer Realitätscheck der vergangenen Wochen.

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Die Demonstrationen gegen die Regierung Netanjahu halten an. Und auch die Kampagnen für die noch immer nicht zurückgekehrten Geiseln: So gibt es etwa in einem Supermarkt in Tel Aviv Milchkartons mit Bildern von am 7. Oktober 2023 Gekidnappten. Niemand weiß, wer von ihnen noch lebt. © JACK GUEZ / AFP / picturedesk.com; Carlos Garcia Rawlins / REUTERS / picturedesk.com

Israel ist ein Land, das Normalität in alles anderen als normalen Zeiten aufrecht erhält. Resilienz ist eine gute Sache, aber die Gefahr besteht, dass man sich an Dinge gewöhnt, an die man sich niemals gewöhnen sollte. Zum Beispiel an die Geiseln in Gaza. Einige hatten dort gerade zum zweiten Mal Geburtstag. Angehörige, die sich unablässig engagieren, um nicht komplett durchzudrehen, waren in Rom beim Papst. Er hat ihnen versprochen, alles in seiner Macht Stehende zu tun. Was sollte er wohl sonst sagen?

Gewöhnt hat man sich auch fast schon an den Kriegszustand und die damit einhergehenden Verluste. Im Durchschnitt fallen ein bis zwei Soldaten am Tag. Seit dem 7. Oktober waren es insgesamt 793, darunter 269 Reservisten (Stand Mitte November). Im Radio werden morgens die Namen durchgegeben, auch das ist längst Routine, und eine Nahestehende, oftmals ist es die Mutter, erzählt dann im Interview, wie hilfsbereit, selbstlos und tapfer ihr Sohn war, der jetzt nicht mehr ist. Dann muss es mit den anderen Nachrichten weitergehen. Manchmal fügt eine Rundfunkmoderatorin ein, dass solche Übergänge ja eigentlich furchtbar abrupt seien und nicht leicht fallen würden. Aber das war es dann auch. Was sollte sie denn sonst tun?

Die Nachrichtenflut dauert an. Auch da kann einen inzwischen schon fast nichts mehr umhauen. Damit es nicht untergeht, hier die wichtigsten Punkte der jüngsten Entwicklungen.

Joaw Gallant wurde von Benjamin Netanjahu als Verteidigungsminister entlassen. Es gab zwar ein paar Proteste, aber keine zweite GallantNacht, als der Premier sich gezwungen sah, den Rauswurf wieder zurückzunehmen.

© JACK GUEZ / AFP / picturedesk.com; Carlos Garcia Rawlins / REUTERS / picturedesk.com

Im Verteidigungsministerium sitzt jetzt Israel Katz, der aber erst noch vom Militär angelernt werden muss. Er muss rundum gebrieft werden, man wird ihn zu Stützpunkten an zwei Kriegsfronten bringen müssen. Das kann dauern. Was aber womöglich genau das Ziel ist. Denn Gallant war ja gefeuert worden, weil er zu jenen gehörte, die den Fortlauf der Dinge unterbrechen wollten. Er setzte sich für einen Geisel-Deal ein, für eine Untersuchungskommission zum Versagen des 7. Oktobers und die Einberufung der Haredim zum Militärdienst.

Es gibt auch einen neuen Außenminister: Gideon Sa’ar. Aber dazu ist sonst nicht viel zu berichten. Jeder weiß auch so, dass er das Amt bekommen hat, um die Regierung zu stabilisieren.

Wegfliegen ist ohnehin mühsam
geworden. Billigflieger sind keine Option mehr, die meisten haben ihren Verkehr nach Israel eingestellt.

Donald Trump ist erneut zum amerikanischen Präsidenten gewählt worden. Er hat ein Team um sich geschart, von dem Minister aus dem radikalen Lager begeistert sind, weil sie sich durch getätigte Aussagen in Hinblick auf Israel von rechts überholt sehen. Wie Trump selber das sieht, kann keiner sagen. Offenbar bemüht er sich gerade, noch vor seiner Amtseinführung einen Waffenstillstand mit dem Libanon zu erreichen.

Im Kino läuft The Apprentice, der Lehrling. Es lohnt sich, ihn anzusehen, auch wenn man weiß,dass Machtpolitik ein schmutziges Geschäft ist. Da geht es um den jungen Trump und seinen frühen Mentor, Roy Cohn, der ihm einst beibrachte, wie man es bis ganz nach oben schafft. Der Bumerangeffekt ist vorauszusehen. Trump verinnerlicht die Lektion so gut, dass er bald auch über Cohn hinwegsteigt, egal, wie sehr dieser ihn nun seinerseits brauchen würde.

Was man mitnimmt: Skrupellosigkeit zahlt sich aus, man darf nie eine Schwäche zugeben, muss immer alles abstreiten und den Gegner ständig angreifen.

Im Büro des Premierministers gibt es neue Skandale. Mitarbeiter stehen unter Verdacht, sich Zugang zu streng geheimen Unterlagen verschafft zu haben. Ein Sprecher Netanjahus wird vernommen, weil er von der Armee entwendetes Material an die Bild-Zeitung weitergegeben haben soll, um Netanjahu und dessen unnachgiebige Politik in der Geiselfrage zu stärken.

Andere sollen Gesprächsprotokolle im Nachhinein gefälscht haben. Man kommt gar nicht mehr nach. Das Büro des Premierministers fühlt sich von der Justiz verfolgt.

Die Nachrichtenflut dauert an.
Auch da kann einen inzwischen
schon fast nichts mehr umhauen.

Der Korruptionsprozess gegen Netanjahu soll wieder aufgenommen werden. Am 2. Dezember ist ein Gerichtstermin anberaumt. Netanjahu hat um einen zehnwöchigen Aufschub gebeten, weil er keine Zeit habe, sich auf seine Aussage vorzubereiten, aber die Richter sind nicht überzeugt.

Fußballfans sollen künftig besser zuhause bleiben. Ein neues Ranking gibt Auskunft über die Gefahrenlage nach den Vorfällen in Amsterdam. Die Karte von Europa ist in Farben gekennzeichnet. Normale Vorsicht, also alles wie bisher, ist geboten in der Schweiz, in Norwegen, Dänemark, Polen, Ungarn, Tschechien und dem Baltikum. Dann gibt es die Kategorie Zwei, mit der Warnung „gelegentliche Bedrohung“, darunter fallen Österreich, Deutschland, Großbritannien, Italien, Spanien und Frankreich.

Wegfliegen ist ohnehin mühsam geworden. Billigflieger sind keine Option mehr, die meisten haben ihren Verkehr nach Israel eingestellt, und wenn es doch noch Flüge gibt, dann bedeutet das nicht, dass sich auch wirklich stattfinden. Man kann sich nur auf die El Al verlassen, deshalb aber sind dort viele Flüge schon lange im Vorfeld ausgebucht.

Ja, und fast würde es man ja schon vergessen zu erwähnen, so normal ist das schon: Je nach Wohnort ist der Raketenalarm mehr oder weniger heftig, in letzter Zeit sind es vor allem Drohnen, die dem Abwehrsystem zu schaffen machen.

Der versprochene Angriff aus dem Iran ist immer noch aktuell.

Meldungen aus Gaza und aus dem Libanon gibt es inzwischen fast gar nicht mehr.

Im Supermarkt gibt es Sufganiot.

Bald ist wieder Chanukka. Vielleicht kommt es ja zu einem Wunder.

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