Die jüdischen Revoluzzer mit ihren Kameras

1916

Atemberaubende sozialkritische Fotografien zeigt das Jewish Museum in New York. Ein Lokalaugenschein von Marta S. Halpert

Die lebendig-laute Kindergruppe wartet an diesem kalten New Yorker Morgen auf Einlass in die Ausstellung der Hanukkah Lamps Selected by Maurice Sendak in das Jewish Museum. Die umfassende ständige Schau zur jüdischen Geschichte von ihren Anfängen bis heute, Culture and Continuity: The Jewish Journey, wird die Lehrerin sicher auslassen, denn die Kleinen sind jetzt schon ungeduldig genug. Auch für die aktuelle und dritte Ausstellung im Haus wird diese Schülergruppe noch zu jung sein, obwohl sie gerade hier zahlreiche ihrer Altersgenossen weniger gut gekleidet und weit weniger gut genährt sehen könnte. The Radical Camera: New York’s Photo League 1936-1951 heißt die atemberaubende, sozialkritische Dokumentation des New Yorker Alltags von der großen Depression nach dem Ersten und der Not nach dem Zweiten Weltkrieg anhand von Vintage-Fotografien der bedeutendsten Fotokünstler der letzten 90 Jahre.

Doch die Bezeichnung „Dokumentation“ im Zusammenhang mit der Photo League  ist in diesem Fall zu kurz gegriffen. Bei diesen Amateur- und Profifotografen handelte es sich um eine Gruppe von politisch engagierten Künstlern, die mit ihren realistischen Schwarzweißaufnahmen scharfe Kritik an den sozialen Umständen übte und diese zum Missfallen der offiziellen Politik sichtbar machte. In der Gruppe um die Gründer Sid Grossman und Sol Libsohn befanden sich noch weitere große Talente wie Paul Strand, Berenice Abbott, Walter Rosenblum, Aaron Siskind, Jerome Liebling, Morris Engel und etwas später Richard Avedon und Weegee, und sie alle prangerten Armut, Gewalt und Rassismus an. Die linkslastigen Mitglieder der New York’s Photo League waren großteils jüdisch und gehörten zur ersten Generation der bereits in Amerika geborenen Emigrantenkinder aus Ost-und Mitteleuropa.

Fotoschule Photo League

Die Photo League wurde zur größten nichtkommerzielle Fotoschule der USA und entwickelte sich zum wichtigsten Forum für Fotografie in New York. Die Werke der Photo League, deren Mischung aus Ästhetik und Sozialaktivismus die moderne Fotografie wesentlich beeinflusst hat, zeigt The Jewish Museum in New York noch bis 25. März 2012 in 150 ergreifenden historischen Schwarzweißfotografien.

Die Schau zeigt das Leben, wie es sich in den Straßen von New York abspielte: Die heute 91-jährige Sonia Handelman Meyer, 1920 als Kind osteuropäischer Einwanderer in Lakewood, NJ, geboren, wurde mit ihren Fotos der lokalen Nachbarschaft berühmt. Das scharfe Auge und die Empathie für die conditio humana brachten in Meyers Fotografien und Straßenszenen von Immigranten, Minderheiten und Kinder, ob in Harlem, im Dorf oder in Brooklyn ein erschreckend realistisches Abbild zutage. Arme Kinder spielen und lachen, sie finden Plätze der Freude, trotz aller Widrigkeiten, die sie aushalten und überleben müssen. Erwachsene wie Kinder schaffen sich eigene Aktionsräume, die sie sich auf den Gehsteigen und in Hauseingängen, in Telefonzellen und neben parkenden Autos erobern. Fern der sozialen Enge eines Milieus der Armut und Bedürftigkeit wird die Umwelt verdrängt und vergessen und ein autonomer Platz auf der Straße behauptet.

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Die Hetzjagd der McCarthy-Ära

Bereits 1930 entstand in New York die Workers’ Film and Photo League als Vereinigung der amerikanischen Arbeiterfotografen. Vorbild waren die von der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH) gegründeten Vereine der Arbeiterfotografen in Deutschland, Frankreich, England, Holland und Österreich. Vor allem in Berlin, wo der Jungkommunist Willi Münzenberg nicht nur Fotografen für seine Massenpublikationen organisierte, z. B. Die Arbeiter Illustrierte Zeitung, sondern auch eine Filmproduktion etablierte, konnten linke Publikationen eigenes Bildmaterial produzieren und veröffentlichen. Diese Bilder wurden der kapitalistischen Presse entgegengesetzt. Zu den Gründungsmitgliedern der Film und Photo League gehörten Leo Seltzer, Sam Brody und Robert Del Duca, gefolgt von Leo Hurwitz, Irving Lerner und Ralph Steiner. Sie boten Film- und Fotokurse an, produzierten Fotomaterial, und vor allem drehten sie Wochenschauen, die den Standpunkt linker Arbeiter einnahmen, die damals noch ohne gewerkschaftliche Strukturen waren.

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Als die Differenzen zwischen den Film- und Fotoleuten eskalierte, gründete Sid Grossman mit einigen Kollegen die separate Gruppe für Fotografie, deren Schule er dann auch viele Jahre leitete. Grossmann (1913–1955), dessen Eltern aus Österreich in die USA emigriert waren, arbeitete 1939 an einer Serie, die das Leben auf der Straße in Harlem dokumentierte. Mit dieser gewann er große internationale Aufmerksamkeit. Im Sommer 1940 reiste er durch die Dust-Bowl-Gebiete und fotografierte die gewerkschaftlichen Aktivitäten sowie das ländliche Leben. Grossmans produktivsten Jahre als Fotograf waren kurz nach dem Zweiten Weltkrieg: Er fotografierte Coney Island in den Sommern 1947 und 1948 und das San Gennaro Festival in der Mulberry Street in Manhattans Little Italy 1948.

Die Auflösung

Grossman und die Photo League gerieten 1949 in Konflikt mit dem FBI und dem McCarthy-Tribunal. Er stand bereits seit 1940 unter Beobachtung und wurde des Umgangs mit Kommunisten verdächtigt. Die Untersuchungen wurden auf Grossmans Mitarbeiter in der Photo League erweitert und Letztere insgesamt als kommunistische Tarnorganisation verunglimpft. Da die Mitglieder der Photo League dieser politischen Hetzjagd nichts entgegensetzen konnten, wurde die League 1951 aufgelöst. Grossman lebte dann großteils in Massachusetts; nach New York kam er nur mehr für Privatunterricht: Unter seinen Schülern war die Wienerin Lisette Model, die ihn unterstützen wollte. Als Elise Amelie Stern 1901 geboren, studierte sie zuerst Harmonielehre bei Arnold Schönberg. Erst in Frankreich ab 1933 widmete sie sich der Fotografie. In Nizza produzierte sie eine ironische Bilderserie über die Nobelurlauber an der Promenade des Anglais, die 1935 mit einem sozialkritischen Kommentar in der Zeitschrift regards, einem Organ der kommunistischen Partei, veröffentlicht wurde. Damit gelang ihr der Durchbruch im Bereich der Straßenfotografie. Zu den bekannten Persönlichkeiten, die sie später porträtierte, gehörten Frank Sinatra und Georges Simenon. 1952 begann sie eine Fotoserie über Jazzmusiker zu fotofgrafieren, darunter Louis Armstrong und Ella Fitzgerald. Ab 1957 unterrichtete sie Fotografie an der New Yorker New School for Social Research.

Schwer kann man die vielen traurigen Kinderaugen auf den Fotos in dieser faszinierenden Ausstellung aus dem Kopf verbannen. Doch da ist plötzlich wieder die Schulkasse, die lachend aus der Hanukkiah-Präsentation strömt. Lärmend verlassen die Kinder in ihren dicken Daunenjacken das Jewish Museum – und lassen keinen Platz für Wehmut.

The Jewish Museum

1109 Fifth Avenue  at 92nd Street New York, NY 10128
Tel.: (212) 423-3333

www.thejewishmuseum.org

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WINA  City-TIPP

Sehenswertes in New York

Zehn Jahre Neue Galerie

Anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Museums for German and Austrian Art zeigt die Neue Galerie einen einmaligen Einblick in die Sammlung ihres Mitbegründers Ronald S. Lauder.

Bis 2. April 2012 kann man eine Auswahl von Kunstwerke vom dritten Jahrhundert v. Chr. bis ins 20. Jahrhundert aus Deutschland, Österreich und Frankreich aus der Ronald S. Lauder Collection besichtigen.

1048 Fifth Avenue
New York, NY 10028

neuegalerie.org

Center for Jewish History

Das historische Forschungszentrum bietet laufend Ausstellungen zu jüdischen Themen und beheimatet u. a. das YIVO Institute for Jewish Research, das Leo Baeck Institute, das Yeshiva University Museum und die American Jewish Historical Society.

15 West 16th Street
New York, NY 10011

cjh.org

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