Atemberaubende sozialkritische Fotografien zeigt das Jewish Museum in New York. Ein Lokalaugenschein von Marta S. Halpert
Die lebendig-laute Kindergruppe wartet an diesem kalten New Yorker Morgen auf Einlass in die Ausstellung der Hanukkah Lamps Selected by Maurice Sendak in das Jewish Museum. Die umfassende ständige Schau zur jüdischen Geschichte von ihren Anfängen bis heute, Culture and Continuity: The Jewish Journey, wird die Lehrerin sicher auslassen, denn die Kleinen sind jetzt schon ungeduldig genug. Auch für die aktuelle und dritte Ausstellung im Haus wird diese Schülergruppe noch zu jung sein, obwohl sie gerade hier zahlreiche ihrer Altersgenossen weniger gut gekleidet und weit weniger gut genährt sehen könnte. The Radical Camera: New York’s Photo League 1936-1951 heißt die atemberaubende, sozialkritische Dokumentation des New Yorker Alltags von der großen Depression nach dem Ersten und der Not nach dem Zweiten Weltkrieg anhand von Vintage-Fotografien der bedeutendsten Fotokünstler der letzten 90 Jahre.
Doch die Bezeichnung „Dokumentation“ im Zusammenhang mit der Photo League ist in diesem Fall zu kurz gegriffen. Bei diesen Amateur- und Profifotografen handelte es sich um eine Gruppe von politisch engagierten Künstlern, die mit ihren realistischen Schwarzweißaufnahmen scharfe Kritik an den sozialen Umständen übte und diese zum Missfallen der offiziellen Politik sichtbar machte. In der Gruppe um die Gründer Sid Grossman und Sol Libsohn befanden sich noch weitere große Talente wie Paul Strand, Berenice Abbott, Walter Rosenblum, Aaron Siskind, Jerome Liebling, Morris Engel und etwas später Richard Avedon und Weegee, und sie alle prangerten Armut, Gewalt und Rassismus an. Die linkslastigen Mitglieder der New York’s Photo League waren großteils jüdisch und gehörten zur ersten Generation der bereits in Amerika geborenen Emigrantenkinder aus Ost-und Mitteleuropa.
Fotoschule Photo League
Die Photo League wurde zur größten nichtkommerzielle Fotoschule der USA und entwickelte sich zum wichtigsten Forum für Fotografie in New York. Die Werke der Photo League, deren Mischung aus Ästhetik und Sozialaktivismus die moderne Fotografie wesentlich beeinflusst hat, zeigt The Jewish Museum in New York noch bis 25. März 2012 in 150 ergreifenden historischen Schwarzweißfotografien.
Die Schau zeigt das Leben, wie es sich in den Straßen von New York abspielte: Die heute 91-jährige Sonia Handelman Meyer, 1920 als Kind osteuropäischer Einwanderer in Lakewood, NJ, geboren, wurde mit ihren Fotos der lokalen Nachbarschaft berühmt. Das scharfe Auge und die Empathie für die conditio humana brachten in Meyers Fotografien und Straßenszenen von Immigranten, Minderheiten und Kinder, ob in Harlem, im Dorf oder in Brooklyn ein erschreckend realistisches Abbild zutage. Arme Kinder spielen und lachen, sie finden Plätze der Freude, trotz aller Widrigkeiten, die sie aushalten und überleben müssen. Erwachsene wie Kinder schaffen sich eigene Aktionsräume, die sie sich auf den Gehsteigen und in Hauseingängen, in Telefonzellen und neben parkenden Autos erobern. Fern der sozialen Enge eines Milieus der Armut und Bedürftigkeit wird die Umwelt verdrängt und vergessen und ein autonomer Platz auf der Straße behauptet.