Die Jugend mit Klassiker. Neudeutungen ins Theater bringen

Arthur Schnitzlers Dauerbrenner Professor Bernhardi mutiert am Burgtheater zur „Ärztin“ Ruth Wolff. Das Thema des Antisemitismus geht nicht verloren: Es wird mit heutigen Identitätsdiskursen angereichert.

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Anregendes Gespräch. Die Ensemble-Mitglieder Sophie von Kessel und Philipp Hauß mit WINA-Autorin Marta S. Halpert in den Räumen des Burgtheaters. Fot. Reinhard Engel

Wer immer noch nicht auf kulturelle LiveErlebnisse zwischen den Pandemie-bedingten Pausen verzichten will, muss gute organisatorische Fähigkeiten aufweisen. Denn es geht nicht nur darum, die ständig wechselnden Aufführungstermine hin- und herzuschieben, sondern auch die erforderlichen PCR-Tests punktgenau einzuplanen. Das Zittern und Beten um den auch rechtzeitig eintreffenden Befund wird zuweilen nur durch die Vorfreude auf den Opern- oder Theaterbesuch etwas gemildert.

Dieses Klagelied betrifft derzeit die unbeirrbar Nervenstarken, die nicht auf lebendigen Kulturgenuss verzichten können und wollen. Aber wie sieht es auf der anderen Seite aus? Seit zwei Jahren sind flexible Manager in den Abonnenten-, Karten-, und Besetzungsbüros nicht nur nachgefragt, sondern unbedingt erforderlich. Besonders schlimm ist es für Musiker, Darsteller und Künstlerinnen, die sich in bereits lang geplante Stücke einarbeiten, zu proben beginnen, plötzlich unterbrechen müssen und die Spannung, die diese Arbeit erfordert, verlieren und immer wieder neu aufbauen müssen.

Sophie von Kessel und Philipp Hauß freuen sich drauf, dass sie nun nach zwei Verschiebungen in der ersten Produktion im neuen Jahr auftreten können. Fot. Reinhard Engel

Sophie von Kessel und Philipp Hauß, beide Ensemblemitglieder des Wiener Burgtheaters, freuten sich daher umso mehr, dass sie in der ersten Produktion im neuen Jahr – nach zwei Verschiebungen – endlich spielen konnten. Sophie von Kessel verkörpert die Hauptrolle in Die Ärztin von Robert Icke, „sehr frei nach Professor Bernhard von Arthur Schnitzler“, wie es im Untertitel heißt. „Diese Rolle ist sehr anspruchsvoll, aber auch ein Geschenk“, schwärmt die 1968 in Mexico City als Tochter eines Diplomaten aus altem Adel geborene Schauspielerin. „Erstens, dass man als Frau eine Rolle in dieser Größenordnung spielen kann, denn für Frauen, und schon gar nicht in meinem Alter, sind solche Stoffe an einer Hand abzuzählen“, meint die 53-jährige zweifache Mutter. „Der besondere Reiz und die Herausforderung ist es, all diese Qualitäten wie Scharfsinnigkeit, hohe Intelligenz und Zielstrebigkeit konsequent durchzuziehen, weil es Eigenschaften sind, die vor allem Männern zugeschrieben werden“, lacht Kessel. „Ich will nicht sagen, dass ich die Eigenschaften nicht habe, aber ich musste schon in mir danach suchen: Jetzt habe ich keine Angst mehr, auf der Bühne einfach unsympathisch zu sein, denn die Ärztin ist jedenfalls eine faszinierende Person.“ Philipp Hauß, der am Reinhardt Seminar Schauspiel und an der Universität Wien Philosophie und Kulturwissenschaft studierte, sekundiert der Kollegin: „Genauso ist es: Wenn ein Mann zielstrebig ist, dann nennt man ihn toll. Trifft das auf eine Frau zu, heißt es, sie sei ehrgeizig und verbissen.“ So funktioniere es auch bei den Antisemiten, meint der 1980 in Münster Geborene: „Wenn ein jüdischer Unternehmer sehr erfolgreich ist, wird er als geizig und berechnend bezeichnet. Ist er aber kein Jude, dann ist er geschickt und hat sich vorbildhaft hinaufgearbeitet. Bei Donald Trump war das so, und es gibt zahllose ähnliche Narrative.“
Warum werden diese erfahrenen Schauspieler bei dieser Produktion so nachdenklich und tief schürfend? Weil sie den Schnitzler’schen Klassiker Professor Bernhardi, wo es um blanken Antisemitismus und dessen politische Instrumentalisierung geht, in einer kompletten Neufassung spielen. Der 35-jährige englische Regisseur und Autor Robert Icke ist bekannt für seine Überschreibungen und Inszenierungen klassischer Texte. Er hat mit seinen Adaptionen in London große Erfolge gefeiert und zahlreiche Preise eingeheimst. Inzwischen ist Icke mit seinen Inszenierungen in Stuttgart, Amsterdam und Basel gelandet – mit Die Ärztin folgte nun sein Wien-Debüt. Der britische Regisseur hat sein Konzept der Londoner Uraufführungsproduktion The Doctor aus dem Jahr 2019 nahezu unverändert für das Burgtheater übertragen. Um die Ärztin von Robert Icke zu verstehen, muss man Schnitzlers Original, das in Wien bis 1918 von der Zensur verboten war und 1912 in Berlin uraufgeführt wurde, nicht kennen. Denn der junge Brite erzählt eine Geschichte, die in sich schlüssig ist. Dennoch schreibt er dazu, dass sein Werk „sehr frei nach Schnitzlers Bernhardi“ entstanden ist. „Robert Icke ist überzeugt, dass das Theater aussterben wird, wenn es nicht gelingt, die Jugend mit Themen zusammenzubringen, die sie betreffen und interessieren“, erklärt Philipp Hauß. „Statt etwas nur nachzuahmen, wie es im deutschen Sprachraum auch schon geschah, finde ich es konsequenter, wie Simon Stone und Robert Icke zu sagen, ich schreibe es neu, will aber auch nicht so tun, als käme es ganz von mir. Ich signalisiere damit klar, ich beziehe mich auf die Vorlage.“ Bei der harschen Kritik an Klassikeradaptionen, meint Hauß, sollte man schon bedenken, dass es fast kein Werk der Weltliteratur gibt, das nicht in irgendeiner Form eine Überschreibung ist oder sich zumindest auf vorangegangene Texte bezieht, „das ist ein Wesensmerkmal literarischer Produktion überhaupt.“ Schnitzlers Original handelt von einem introvertierten jüdischen Arzt, Leiter einer Privatklinik, auf dessen Abteilung ein junges Mädchen nach einer misslungenen illegalen Abtreibung im Sterben liegt. Als ein Priester eintrifft, um ihr die letzte Ölung zu geben, verweigert ihm der Arzt Bernhardi den Gang zum Mädchen: Er will ihr vor dem Tod die Illusion belassen, alles werde noch gut. Absichtlich missverstanden und als christliche Religionsstörung von antisemitischen, deutschnationalen Kräften umgedeutet, verliert Bernhardi die Leitung der Klinik und geht sogar ins Gefängnis – weil er sich als etwas naiv-unpolitischer Mediziner im Recht wähnt und keine fulen Kompromisse schließen will.

Zeitgeistige Themen übertrumpfen den Antisemitismus. Als Politstück über den Antisemitismus in der Monarchie ist es zwar in seiner Zeit verankert, aber die Thematik des Stückes – vorurteilsbehaftete Stigmatisierung jüdischer Menschen – ist wenigstens hierzulande nie wirklich aus der Mode gekommen. Auch deshalb verlor das Drama nie an Aktualität und hielt sich auf den Theaterbühnen. Der Brite Icke hat eine an heutigen Identitätsdiskursen geschärfte Neufassung geschrieben, denn die politischen Narrative sind vielfältiger geworden. Offensichtlich lockt der ausschließlich antisemitische Aspekt die jungen Besucher nicht mehr ins Theater. Nicht nur Professor Bernhardi wird zur lesbischen Frau Professor Ruth Wolff: Ickes Inszenierung mischt die Politik der Zuschreibungen – Geschlecht, Ethnie, Religion, sexuelle Orientierung usw. – auf der darstellerischen Ebene quirlig durcheinander. Weiße Schauspieler werden angesprochen, als wären sie schwarz, schwarze sprechen von sich als weiße.

„Der besondere Reiz ist es,
all diese Qualitäten konsequent durchzuziehen, weil es Eigenschaften sind,
die vor allem Männern zugeschrieben werden.“
Sophie von Kessel

Daher wird der Protagonistin Ruth Wolff, die eine säkulare Jüdin ist, postwendend Rassismus unterstellt. Während bei Professor Bernhardi das Figurenpersonal – außer einer Krankenschwester – rein männlich ist, dreht sich hier ständig ein Gender-Karussell. Sophie von Kessel leitet im Stück eine renommierte Alzheimer-Klinik, forscht mit ihrem Team darüber und ist sogar für den Nobelpreis im Gespräch. Wie kommt ein 14-jähriges Kind nach einer verpfuschten Abtreibung auf ihre Klinik? „Das ist der erste Knackpunkt der Geschichte. Ich finde das ohnmächtige Mädchen bei der Notaufnahme und nehme sie aus Mitgefühl und Mitleid in mein Institut“, erklärt die vielbeschäftige Schauspielerin. „Genau diese ‚weiblichen‘ Eigenschaften werden mir von meinen Kollegen abgesprochen, weil ich die Klinik autoritär führe.“

Als sie, ganz wie bei Schnitzler, einen Priester daran hindert, das Zimmer des sterbenden Mädchens zu betreten, führt dieser Vorfall innerhalb kürzester Zeit zu einem gigantischen Shitstorm in den sozialen Medien. Die Ärztin wird das Opfer brutaler politischer Korrektheit, die ihre Gegner für sich selbst nutzen. Jede Nachbesetzung in der Klinik wird zur Quotenfrage, wenn Benachteiligung oder Unterdrückung einer Gruppe nur vermutet wird. So erweitert Icke das Original um die aberwitzige Cancel Culture, um die aktuelle Woke-Bewegung und vieles mehr. Ruth Wolff glaubt – ähnlich wie Bernhardi –, ihre Zuschreibung durch die Außenwelt selbst bestimmen zu können: Sie sieht sich nur als Ärztin und will sich keinesfalls als jüdisches Opfer antisemitischer Angriffe darstellen lassen. Da täuscht sie sich, denn auch sie unterliegt den identitätspolitischen Querelen und Machtspielen. „Dass die Ärztin gerade über Alzheimer forscht, passt sehr gut in die Diskussion, worum es im Stück geht“, befindet Sophie von Kessel. „Mit Alzheimer weiß man sehr bald nicht mehr, wer man ist. Also braucht man die Zuschreibung von außen. Und ich konstatiere vom menschlichen Standpunkt aus: Ich bin vor allem Ärztin, das ist das Wichtigste. Währenddessen heißt es in unserer Welt: Nein, Sie sind Frau, Sie sind Jüdin, sind intelligent, sind weiß und privilegiert. Also was bleibt vom Menschen übrig?“

„Robert Icke ist überzeugt, dass das Theater aussterben
wird, wenn es nicht gelingt, die Jugend mit Themen
zusammenzubringen, die sie betreffen und interessieren.“
Philipp Hauß

Philipp Hauß in der Figur des Priesters (und auch des Vaters der Todgeweihten) fasziniert die Auseinandersetzung Medizin versus Religion. „Robert Icke gelingt es gut, die Komplexität unserer Welt und ihre aktuellen Erhitzungsmaschinen abzubilden. Die Aktualität der Ärztin können wir leider auch an der Covid-Krise ablesen: Die trägt sowohl antisemitische Grundzüge wie auch antiaufklärerische, antifortschrittliche und antiwissenschaftliche“, erläutert Hauß. „Das bekommt auch die Ärztin alles vorgesetzt und muss damit umgehen. Es wäre so einfach für sie, aus ihrer Position sich zu entschuldigen oder zu relativieren, aber sie steht zu ihrem Credo.“ Werden die eingeschworenen Schnitzler-Fans enttäuscht sein? „Das ist schwer zu sagen, ich würde mir wünschen, dass sie unseren Respekt gegenüber dem Schnitzler-Bernhardi spüren und trotzdem sehr viel aus der Icke-Fassung mitnehmen. Vielleicht auch Deprimierendes, denn wenn man heutige Hass-Mails liest, ist doch nicht so viel anders“, meint Philipp Hauß, der Hörspiele schreibt und in Kürze in zwei Spielfilmen zu sehen sein wird. „Sie kennen ja Wien gut, die Kontinuität des Antisemitismus und der Ausgrenzung ist gegenwärtig. Kaum ist etwas in Aufruhr, wie jetzt bei der Pandemie, greift man gleich in die Kiste und holt die Weltverschwörung raus.

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