
Ein Blumenstillleben im Haus seiner Schwiegermutter in Tel Aviv machte den deutschen Medizinhistoriker auf eine ihm unbekannte Künstlerin aufmerksam. Olga Meerson-Pringsheim. Erst einige Jahre später nahm Robert Jütte ihre Fährte auf und leitet mit seiner nun erschienenen Biografie die Wiederentdeckung der russisch-jüdischen Malerin fast 100 Jahre nach deren Tod ein. Eine Ausstellung im bayrischen Murnau, wo ihre berühmteren Kolleg:innen Wassily Kandinsky und Gabriele Münter lebten, zeigt jetzt auch das, was von ihrem Werk noch erhalten ist, denn allzu viel ist in den Wirren der Zeit verloren gegangen.
Wann genau Olga Meerson in Moskau in eine großbürgerliche jüdische Kaufmannsfamilie geboren wird, lässt sich nicht mehr genau feststellen. Jedenfalls ist sie fast noch ein Kind, ihre Begabung hatte sich früh gezeigt, als sie 1891 Aufnahme auf die Moskauer Kunstakademie findet. Schon zu Ende des Jahrhunderts zieht es sie, wie damals viele junge Malerinnen, nach München, wo sie sich in die so genannte „Damen-Akademie“ einschreibt, da Frauen zu dieser Zeit andere künstlerische Ausbildungsstätten verschlossen bleiben. Bald schon integriert sie sich in die Malergruppe rund um ihren Lehrer Wassily Kandinsky und damit auch in die Münchner Boheme.
„Die Israeliten waren, wie immer, wenn es um kulturelle Pionierbewegungen geht, in der absoluten Mehrheit“, beobachtet ihr schwedischer Kollege Carl Palme diese Avantgarde.
Bei den Pringsheims. München sollte nicht nur in künstlerischer Hinsicht ihr Schicksal werden. In der Münchner Arcisstraße hielt Hedwig Pringsheim in einem Palais mit erlesensten Kunstschätzen gleichsam Hof. Nicht nur Thomas Mann war bei seinem ersten Besuch im Haus seiner späteren Schwiegereltern von diesem hochherrschaftlichen Ambiente überwältigt. „Kein Gedanke an Judenthum kommt auf, diesen Leuten gegenüber; man spürt nichts als Kultur.“ Schon auf Anhieb fand die Hausherrin die kleine Russin „ungewönlich sympathisch“ und nahm sie unter ihre Fittiche und in ihren Salon auf.
In Hedwig Pringsheims penibel geführtem Tagebuch lassen sich die Spuren der Malerin ab 1900, ihre An- und Abreisen, Wohnorte, vor allem aber ihre zahlreichen psychischen Krisen und damit verbundenen Aufenthalte in diversen Sanatorien nachverfolgen. Da Olga bald quasi zur Familie gehört, bis sie tatsächlich zur Familie gehört, ist Hedwigs Tagebuch eine der wichtigsten Quellen Jüttes.
„Eine junge Russin, die immer in eine Kaltwasseranstalt muss, wenn sie verliebt ist“, kommentiert sie ironisch Olgas „Logierbesuch“ in einem Brief 1906. Selbstverständlich ist die Malerin Gast bei den alljährlich zelebrierten weihnachtlichen „Bescherungen“ der völlig assimilierten Pringsheims, samt Tochter Katia und „Schwieger-Tommi“, also Thomas Mann, mit wachsender Kinderschar.

Schärpe (Selbstbildnis?), um 1905. © Schlossmuseum Murnau/ Privatsammlung, Foto: Nikolaus Steglich, Starnberg
Sonderausstellung Schlossmuseum Murnau: Die Malerin Olga Meerson: Schülerin von Kandinsky – Muse von Matisse. Bis 9. November schlossmuseum-murnau.de
Bei Matisse. Nach Paris, wo man als Künstlerin einfach gehen musste, kommt sie erstmals 1904 und von da an immer wieder. Werke von Henri Matisse, die sie vorerst in einer Ausstellung sieht, verändern ihr Leben. Der Meister der „Wilden“ wird zu ihrem Vorbild, ihrem Lehrer und vielleicht auch zu mehr. Ganz geklärt ist dieses über Jahre dauernde Verhältnis nicht, jedenfalls wird sich Olga auch da im Familienkreis von Matisse, seiner Frau und Tochter bewegen und diese in deren Feriendomizile begleiten. Ein besonders schönes Matisse-Porträt aus ihrer Hand ist erhalten, es zeigt den Maler entspannt lesend auf einer Couch. Sie wiederum steht dem Meister auch nackt für eine Skulptur Modell. Ihre beachtlichen künstlerischen Erfolge besonders als Porträtistin – es gelingt ihr, im berühmten Pariser Salon d’Automne und auch anderweitig auszustellen – werden allerdings immer wieder von dramatischen seelischen Erschütterungen unterbrochen.
Heimliche Ehe. Oft findet sie in München bei den Pringsheims Aufnahme und Zuflucht, bis sich Heinz, einer der Söhne des Hauses, in sie verliebt und das Paar 1912 schließlich heimlich heiratet. Für Hedwig eine skandalöse Mesalliance, die sie nie verzeihen wird. Heinz, ein mäßig erfolgreicher Dirigent, wird enterbt, finanziell nicht mehr unterstützt und lebt mit seiner kleinen Familie, bald wird eine Tochter geboren, in eher prekären Verhältnissen in Berlin. Olga kann dort in den 20er-Jahren im Zuge des Interesses für russische Künstler noch einige Werke in Ausstellungen zeigen.
Matisse, der Meister der „Wilden“,
wird zu ihrem Vorbild, ihrem Lehrer
und vielleicht auch zu mehr.
Hedwigs nachtragender Hass verfolgt über den Tod der ungeliebten Schwiegertochter hinaus noch deren Tochter Tamara und nachdem diese in England einen jüdischen Mathematiker geheiratet hat, sogar noch deren Kinder, ihre Urenkel. „Und wo ich hasse, da wächst bekanntlich kein Gras mehr“, schreibt sie 1933 beim Besuch ihres Sohnes Heinz.
Auch Thomas und Katia Manns ursprünglich entspanntes Verhältnis zur Schwägerin wird durch die Familienfehde nachhaltig getrübt.
Ende Juni 1930 stürzt sich Olga aus einem Berliner Hotelfenster. Nachdem er sich in eine andere Frau verliebt hatte, hatte Heinz die Scheidung angestrebt, offenbar der Auslöser zum Selbstmord, dem mehrere Krisen vorangegangen waren.
Was bleibt von der zu Lebzeiten angesehenen unglücklichen Künstlerin? Verschollen sind viele ihrer Bilder, von einzelnen gibt es nur noch Fotos. Die zur Zeit im Schlossmuseum Murnau präsentierten befinden sich großteils im Familienbesitz von Nachfahren der Tochter Tamara Estermann in England.
Eine Malerin, die von Zeitgenossen wie Matisse, Jawlensky, den Künstlern des Blauen Reiters und dem Fauvismus Impulse und Anregungen erhielt, aber dennoch einen eigenständigen Stil entwickelte, zeigen die Abbildungen im Buch, das neben Olgas Lebensgeschichte auch ein recht eindrückliches Gesellschaftspanorama rund um die sehr dominante Matriarchin Hedwig Pringsheim entfaltet. Und als Schwägerin des berühmten Schriftstellers kommt Olga Meerson-Pringsheim auch im laufenden Thomas-Mann Jahr noch eine kleine Rolle zu.
Wie viele ihrer Kolleginnen gehörte sie einer Szene jüdischer Künstlerinnen der Vorkriegszeit an, von denen manche, wie Broncia Koller-Pinell, bekannter wurden und sind, andere wie Charlotte Salomon erst vor einiger Zeit auftauchten. Dem Zufall und der peniblen und umfassenden Recherche Robert Jüttes verdankt Olga Meerson-Pringsheim nun ihre späte Wiederentdeckung.