Die Lage ist zu ernst

Und es ist stets das alte Lied ... Professorin Monika Schwarz-Friesels Rede bei der Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalismus im Parlament über die Verstecke und Gefahren der sich mehrenden Antisemitismen.

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MONIKA SCHWARZ-FRIESEL wurde 1961 in Bensberg, Deutschland, geboren. Sie studierte deutsche und englische Philologie sowie Psychologie an der Universität Köln, wo sie auch promovierte und habilitierte. Sie etablierte mit ihrer Forschung die kritische Kognitionslinguistik, lehrte als Universitätsprofessorin für Textlinguistik und Pragmatik an der FSU Jena und bekleidet seit 2010 einen Lehrstuhl an der TU Berlin. Monika Schwarz-Friesel, die mit dem israelischen Historiker Evyatar Friesel verheiratet ist, arbeitet u. a. zur Interaktion von Sprache, Kognition und Emotion, zu kognitiver Semantik und Metaphern sowie über verbale Manifestationen des aktuellen Antisemitismus. Anlässlich der Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus im Wiener Parlament Anfang Mai 2022 hielt Monika Schwarz-Friesel den Keynote-Vortrag. © Parlamentsdirektion/Johannes Zinner

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
bitte erwarten Sie von mir keine Sonntagsrede mit optimistischen Tönen. Die Lage ist zu ernst, um Floskelkultur zu praktizieren. Wir befinden uns – um es mit den Worten Fritz Sterns zu sagen – in einer Zeit der kulturellen Verzweiflung angesichts Verschwörungsdenken, Realitätsverdrehung, Propaganda, Demokratiezweifel – und angesichts eines brutalen Krieges, in dem auch die letzten ukrainischen ShoahÜberlebenden umgebracht werden.
Der israelische Historiker Jacob Katz stellte vor 50 Jahren die Frage, ob der Holocaust als präzedenzloses Menschheitsverbrechen einen anhaltenden KatharsisEffekt haben würde, um „endlich das alte Paradigma der Abwertung jüdischen Lebens“ beenden zu können. Heute wissen wir, dass es nicht die erhoffte flächendeckende Wende, nicht die tiefgreifende Zäsur gab. Die kollektive Emotion Judenhass, sie ist höchst präsent und aktiv.
Einige Fakten aus der empirischen Forschung:
Nein, Antisemitismus ist keineswegs primär ein Randgruppenphänomen von Rechtsradikalen und Islamisten. Ja, Judenfeindschaft ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.
Nein, der klassische Anti-Judaismus ist keineswegs zurückgedrängt. Ja, über zwei Drittel aller antisemischen Äußerungen und Verschwörungsfantasien im Netz 2.0 basieren auf uralten Stereotypen. Und sie lassen das Echo der Vergangenheit in nie dagewesener Quantität erschallen.
Nein, Antisemitismus ist kein austauschbares Vorurteil und auch nicht mit Rassismus oder Xenophobie gleichzusetzen. Ja, Judenfeindschaft ist eine singuläre kulturhistorische Denkkategorie, tief verankert im kollektiven Bewusstsein.
Nein, Bildung und demokratische Einstellung schützen keineswegs immer vor einer judenfeindlichen Gesinnung. Ja, auch gebildete, modern agierende, renommierte Personen produzieren Antisemitismen.

 

„Wer heute öffentlich den jüdischen Staat als Apartheidsregime diffamiert,
der
produziert genauso realitätsverzerrenden Antisemitismus wie die,
die behaupten, Juden schlachteten
Kinder für rituelle Zwecke. “

 

Judenfeindschaft kam stets aus der gebildeten Mitte. Der Großteil der abendländischen Kultur zeugt davon. Daher ist die inflationäre Schlagzeile „Judenhass habe die Mitte erreicht“ irreführend. Die Mitte ist nach wie vor die Quelle – und ihre geistige Substanz nährt die Ränder, nicht umgekehrt.
Nehmen wir als aktuelles Beispiel die Universitäten. In den USA grassiert heute ein Campus-Antisemitismus: Immer mehr junge Juden werden dort attackiert. Akzeptanz findet nur, wer sich antiisraelisch äußert. Es zeigt sich, dass akademische BDSAktivitäten zu einer massiven Zunahme antisemitischer Vorfälle führen.
Erinnern wir uns, dass viele Universitäten in Europa in den Dreißigerjahren zu den ersten Institutionen gehörten, die ihre jüdischen Mitglieder drangsalierten und vertrieben.
Das antijüdische Ressentiment artikuliert sich im öffentlichen Kommunikationsraum seit Jahren wieder offener, selbstbewusster – und selbstverständlicher, ohne dabei immer die dringend benötigten Reaktionen in Politik und Zivilgesellschaft auszulösen.
Da war der Friedensnobelpreisträger und Menschenrechtsaktivist, der sich gegen Rassismus engagierte, jedoch wiederholt den jüdischen Staat mit diffamierenden Phrasen stigmatisierte, der den Tod in den Gaskammern mit Apartheidsanalogien marginalisierte und stereotypfestigend „die jüdische Lobby“ beschuldigte, mächtig und angsterregend zu sein. Geschadet hat dies ihm und seinem weltweiten Ansehen nicht.
Da ist der renommierte Postkolonialismus-Wissenschaftler, der mit antijudaistischen Floskeln Israel dämonisiert und den Holocaust relativiert. Die Personen aus der Kunst- und Kulturszene, die Meinungsfreiheit ausgerechnet für die antisemitische Kampagne der BDS fordern. Die renommierte Kunst- und Kulturorganisation, die die Kunstfreiheit auch bei Israelhass für unantastbar hält. Die Friedensaktivisten und Antirassismusgruppen, die für alles und jeden Toleranz haben, nur in einem einzigen Punkt nicht: für das jüdische Bedürfnis, nach 2.000 Jahren Unterdrückung endlich ohne Belehrungen leben zu wollen.
Im 21. Jahrhundert mutet man Jüdinnen und Juden viel zu. Ihre Ängste werden klein geredet, ihr Trauma heruntergespielt, ihre kollektive Trauer- und Leiderfahrung durch krude Vergleiche verhöhnt, die Shoah von einigen Historikern gar postkolonial usurpiert und damit trivialisiert.
Stets begleitet von der Beteuerung, mit Antisemitismus habe all dies selbstverständlich nichts zu tun. Der aktuelle Antisemitismus aber, er lebt und nährt sich nicht nur vom antisemitisch Ausgesprochenen, sondern auch vom Dulden, Wegschauen und vom Leichtnehmen.
Die Lehren, die mit Jahrzehnten der Verspätung aus Auschwitz und Mauthausen gezogen wurden, erfassen oft weder die Ursache noch die Tiefe der kulturellen Verankerung von judenfeindlichem Denken und Fühlen. Vor den Konzentrationslagern gab es über 19 Jahrhunderte lang ununterbrochen judenfeindliche Kommunikation als Norm, wohl gemerkt als Regel, nicht als Ausnahme.
Über die toxischen Wurzeln des Judenhasses wissen wir nach Jahrzehnten der Forschung so viel, dass niemand mehr eine ernsthafte Diagnose für die Therapie mit dem Hinweis, man wisse noch zu wenig über Antisemitismus, in die Zukunft verschieben muss.
Wir wissen sehr genau, wie sich Judenfeindschaft manifestiert, und können klar Auskunft geben, wann eine Äußerung antisemitisch ist. Wir wissen, wie legitime Kritik abzugrenzen ist von Sprechakten der Diskriminierung und Diffamierung.
Doch faktenresistent und wissenschaftsfeindlich halten viele fest an der Behauptung, man wolle die Meinungsfreiheit beschränken und es gebe ein Kritiktabu. Dabei offenbart sich allzu oft eine Doppelmoral, man könnte es auch Scheinheiligkeit nennen: Die toten Juden ehren, die lebenden als Landräuber, Kindermörder und Rassisten verunglimpfen. Ich halte es hier als Wissenschaftlerin mit Georges Steiner. Man kann eine mit Lügen gefüllte Sprache nur durch „drastischste Wahrheiten“ bekämpfen: Wer heute öffentlich den jüdischen Staat als Apartheidsregime diffamiert, der produziert genauso realitätsverzerrenden Antisemitismus wie die, die behaupten, Juden schlachteten Kinder für rituelle Zwecke.
Wie dringend notwendig wären dazu Stimmen des Bedauerns ob des Missgriffs in die Schublade unangemessener Rhetorik. Doch stattdessen selbstgerechte Unterdrückungs- und Opferfantasien. Wer in unseren Demokratien von „Zensur“ und von „Gesinnungsdiktatur“ fabuliert, der sollte beschämt den Blick auf Länder lenken, wo Menschen für ihre Meinungsfreiheit weggesperrt oder getötet werden.
Ganz gleich, in welcher Form und von wem auch immer artikuliert: Judenfeindliche Äußerungen müssen ohne Ansehen der Person – ohne Wenn und Aber – zurückgewiesen werden. Und zwar auch dann, wenn es unbequem für die eigene Realpolitik ist. Abgelegt werden muss hierbei auch die Zurückhaltung, den lautstarken islamischen Judenhass unzweideutig anzusprechen.

Und judenfeindliche Rhetorik nur bei Radikalen und Extremisten zu brandmarken, Bildungsbürgern im Feuilleton jedoch „kritische Reflexionen“ zugestehen: Das konterkariert jede Aufklärung. In der Bereitschaft, jedweden Antisemitismus zu kritisieren, zeigt sich, ob die rituell benutzten Sprüche „Mit aller Entschiedenheit“ und „Nie wieder“ ernst gemeint oder am Ende nur Worthülsen sind. Benötigt wird eine kommunikative Ethik und Praxis, die die Macht und das Gewaltpotenzial von Sprache berücksichtigt und bei aller benötigten Meinungsfreiheit dann Einspruch erhebt, wenn vergiftende Wörter benutzt werden. Freiheit ohne moralische Begrenzung verliert sich in Intoleranz und Rücksichtslosigkeit.
Die Begrenzung eben solcher destruktiven Aktivitäten macht jedoch am Ende eine wirklich humane Gesellschaft aus. Mit Blick auf die „offene Gesellschaft“ schrieb daher Karl Popper vor über 70 Jahren: „Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranten nicht zu tolerieren.“ Die moralische Substanz einer demokratischen Gesellschaft muss gefühlt, getragen und tatsächlich gelebt werden. Und dies wäre die effektivste Waffe gegen Judenhass: Antisemitische Äußerungen immer als das zu kritisieren, was sie sind, ganz gleich, wie schöngefärbt sie erscheinen. Denn jeder öffentlich artikulierte Antisemitismus, der nicht mit aller Entschiedenheit als solcher angesprochen wird, verstärkt erneut – und rückwärts gewandt – das alte kulturelle Normalisierungsgefühl. Folglich würde Antisemitismus dann wieder habituell. In bestimmten Kreisen ist dies schon der Fall. Die Vergangenheit lässt sich nicht ausblenden, sie durchdringt mit Wucht die Gegenwart – und sie wird unsere Zukunft weiterhin gestalten, wenn man sich ihr nicht stellt und sie explizit beim Namen nennt. Solange Antisemitismen im Namen von „Kritik“, „Kunstfreiheit“ oder „politischer Empörung“ akzeptiert werden, solange wird Antisemitismus bleiben und sein geistiges Gift ungehindert verbreiten.

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