Die letzten Fragen blieben offen

Der große Literaturwissenschaftler George Steiner starb 90-jährig in Cambridge. Mit unersättlicher Neugierde sog er Wissen ein, brachte scheinbar Entferntes miteinander in Zusammenhang, musste aber doch vor Unerklärbarem kapitulieren.

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George Steiner.In all seinen Forschungsjahren beschäftigte er sich intensiv mit dem Thema Kulturbruch. © Antonio Olmos/picturedesk.com

„Natürlich bin ich traurig. Aber immerhin hat er beinahe ein biblisches Alter erreicht.“ Sylvia M. Patsch gehört zum exklusiven Kreis der Österreicherinnen und Österreicher, die George Steiner näher kennen und schätzen lernen konnten. Die Germanistin und Kulturjournalistin studierte bei ihm in Cambridge, später gestaltetet sie über ihn mehrere Sendungen für den Radiosender Ö1.
Der Hinweis auf das Biblische kommt nicht ganz von ungefähr. Wohl wuchs Steiner in einer agnostischen jüdischen Familie auf. Doch die hohen Feiertage hielt man noch ein – aus Respekt vor den Großeltern und mehr aus jüdischer Tradition denn aus religiöser Überzeugung. Auch die Vehemenz, mit der ihn sein Vater zu einer Karriere als Wissenschaftler, letzten Endes als Lehrer drängte, sah Steiner durchaus in einer viel, viel älteren – rabbinischen – Denkweise verankert.
Francis George Steiner wurde 1929 in Paris geboren. Dorthin hatte sein Vater Friedrich Georg die Familie schon fünf Jahre zuvor aus Wien übersiedelt, in den Worten des Sohnes aus der Erinnerung war er sich der kommenden Gefahr für die Juden mehr als bewusst: „Das Ende hier ist nah“, habe er später seine Erkenntnis tituliert.
Vater Steiner war aus einem nordböhmischen Dorf bitterarm nach Wien zugezogen und hatte eine beispiellose Karriere gemacht. Mit 24 Jahren hielt er schon eine Managementposition in der Creditanstalt, „mit einer Kutsche mit zwei Pferden“, wie der Sohn stolz erzählte. Dann wechselte der studierte Jurist in die Nationalbank. Steiners Mutter war eine geborene Franzos, eine Großnichte des Feuilletonisten und Dichters Karl Emil Franzos. Es handelte sich dabei um eine sephardische Familie, die ursprünglich von der iberischen Halbinsel über Lothringen nach Galizien gewandert war.
George kam mit einer Behinderung auf die Welt, einer verkrüppelten rechten Hand. Doch seine Mutter zeigte sich trotz großbürgerlicher Lebensweise beinhart: Er dürfe nicht auf die Linke ausweichen, also quälte er sich und schrieb sein Leben lang mit der Rechten. In einem Interview erinnerte er sich an den Triumph, als er unter Schmerzen erstmals seine Schuhbänder selbst knüpfen konnte. Seine spätere Studentin Patsch berichtet, dass er stets eine kalte Pfeife in der Rechten hielt, um die klammen Finger zu kaschieren.
Steiners Vater sollte noch einmal politische Sensibilität beweisen. Er war in Paris wiederum Investment Banker geworden, kaufte unter anderem für die französische Regierung in den USA Waffen ein. Im Frühjahr 1940 besorgte er aus Amerika für seine Familie Touristenvisa, nur Monate vor dem deutschen Einmarsch. Aus George Steiners Pariser Lycée-Klasse überlebte außer ihm nur ein einziger der jüdischen Schüler, in Prag umfasst die Liste der Steiner’schen Holocaust-Ermordeten aus Böhmen mehr als 30 Namen.
George ging in New York erst zur High School, dann wieder ins Lycée und studierte an der Universität von Chicago Mathematik, Physik und Literatur. Er wollte ursprünglich eine Karriere als Mathematiker einschlagen, als ihm das verwehrt wurde – eine seiner großen Enttäuschungen –, wandte er sich der Literaturwissenschaft zu, erst in Harvard, dann in Oxford. In England schrieb er als Redakteur des einflussreichen Wochenmagazins The Economist Leitartikel über internationale Politik, ehe er sich wieder seiner akademischen Karriere zuwandte. Mehrere Jahre verbrachte er am prestigeträchtigen Institute for Advanced Studies in Princeton, dem Biotop von Geistesgrößen wie J. Robert Oppenheimer, Nils Bohr oder Kurt Gödel. Nicht zuletzt diesen persönlichen – auch herzlichen – Kontakten verdankt Steiner sein lebenslanges brennendes Interesse für wissenschaftliche Erkenntnisse und Theorien, die er den großen künstlerischen Leistungen vergangener Jahrhunderte durchaus gleichrangig gegenüberstellte.

Er wollte nicht verstehen,
wie der „Antisemitismus ohne Juden“
weiter überleben konnte, etwa in Osteuropa.

Kontroversielle Figur. Als es um die Frage ging, für welche Universität in den USA er sich mittelfristig entscheiden sollte, griff sein Vater ein. Er drängte den Sohn, wieder nach Europa zurückzukehren, denn sonst hätte Hitler gewonnen, sämtliche Steiners am alten Kontinent entweder ermordet oder vertrieben. George gab nach und zog nach Cambridge. Doch dort sollte es mit der angestrebten Professur nicht klappen. „Ich glaube nicht, dass es antisemitische Gründe dafür gab“, überlegt seine einstige Studentin Patsch. „Es war ganz einfach akademischer Neid.“ Mit eine Rolle gespielt hatte die Tatsache, dass Steiner jenes Haus gekauft hatte, das einst Charles Darwin gehört hatte, und das gefiel seinen akademischen Konkurrenten schon gar nicht.
Auch seine Art zu denken, zu forschen und zu lehren war eher ungewöhnlich. Noch einmal Patsch: „Er hielt seine Vorlesungen immer frei, assoziierte von einem Thema zum anderen, kam etwa recht schnell von der Bibel zu James Joyce.“ Ähnlich, freilich weniger freundlich, schrieb das einmal ein Kritiker im New York Times Book Review: „Er konnte sich von Pythagoras über Aristoteles zu Dante, Nietzsche und Tolstoi in einem einzigen Absatz bewegen“, so Lee Siegel. Und im aktuellen Nachruf der New York Times hieß es: „Er war eine kontroversielle Figur. Bewunderer von Herrn Steiner fanden seine Gelehrsamkeit und seine Argumente brillant. Gegner beklagten, dass er nebulös, hochtrabend und oftmals ungenau sei.“
Die Fülle seiner Themen und Interessen ist jedenfalls beeindruckend. Sie reicht von der antiken Tragödie über Ludwig Wittgenstein bis zu Thomas Bernhard, von Fjodor Dostojewski bis zu Elias Canetti, von Baruch Spinoza über Samuel Taylor Coleridge bis zu Paul Celan. Immer wieder setzt er die literarischen Texte in ihren politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Kontext, bringt philosophische oder naturwissenschaftliche Argumentationsketten ein.
Seine akademische Heimat fand Steiner dann für zwei Jahrzehnte in Genf, wo er einen Lehrstuhl für englische und vergleichende Literatur erhielt. Dort war er in seinem Element, diskutierte mit Studentinnen und Studenten aus allen Kontinenten in mehreren Sprachen, konnte seine gewagten intellektuellen Theorien testen, publizierte und bereiste als Vortragender die ganze Welt. Ein halbes Jahr lebte er übrigens weiterhin in Cambridge, wo seine Frau Professorin für Zeitgeschichte war. Nach seiner Emeritierung in Genf lehrte Steiner noch einige Jahre in Oxford und Harvard.
Eines der großen Themen, das ihn in all seinen Forschungsjahren intensiv beschäftigte, stellte der Kulturbruch durch die Schoah dar. Patsch: „Er hat immer wieder gesagt, die Kultur rettet uns nicht vor der Barbarei, im Gegenteil, sie habe sich der Dekoration für Despoten und Massenmörder mit schuldig gemacht.“ Das Bild des KZ-Schlächters, der am Abend Schubert hört, ließ Steiner nicht mehr los. Aber er war klug genug, diesen Absturz in die Barbarei genauer zu analysieren, seinen Vorlauf und seine Vorbereitung zu studieren, sowohl in der Geschichte wie auch in Kunst und Literatur. Es sah diese Entwicklungen in mehreren Feldern sprießen: im proletarischen Elend, das Kapitalismus und Technisierung produziert hatten, in der unpersönlichen Geschwindigkeit der Städte wie im snobistischen Ennui der Intellektuellen, denen Krieg und Zerstörung lieber waren als übersättigte bürgerliche Fadesse. Und natürlich war da der geifernde wie der kalkulierte Judenhass: Als „mörderischen Beweggrund“ für den Antisemitismus sowohl der Nazis wie auch Stalins sah er den Versuch, „sich jener Minorität zu entledigen, deren Erbe und deren Gefühlsart sie zum natürlichen Nährboden allen Opponierens und aller potenziellen Subversion macht“.
Dennoch blieb auch ihm bei aller Expertise ein großer Rest an Unverständnis für Monstrosität, ein ohnmächtiges Staunen vor dem Unerklärbaren. Er wollte nicht verstehen, wie der „Antisemitismus ohne Juden“ weiter überleben konnte, etwa in Osteuropa. In einem kleinen, feinen Büchlein mit dem Titel Warum Denken traurig macht zog er einen nüchternen Schluss aus vielen Jahren akademischer und kreativer Gedankenarbeit: „Wir sind einer nachprüfbaren Lösung des Rätsels unserer Existenz, ihrer Natur und ihres Zweckes – wenn es ihn überhaupt gibt – in diesem wahrscheinlich multiplen Universum, wir sind einer Antwort auf die Frage, ob der Tod endgültig ist oder nicht, ob es Gott gibt oder nicht, keinen Zoll näher gekommen als Parmenides oder Platon.“
Und dennoch blieb Steiner bis an sein Lebensende neugierig, offen für unkonventionelle Denker und kühne Theorien, freundlich und liebenswert zu den Studenten. In einem Essay über einen anderen Großen des 20. Jahrhunderts, den englischen Philosophen Bertrand Russel, zog Steiner ein Resümee, das wohl auch auf ihn selbst passen könnte:
„Der Titel einer von Russells Abhandlungen, Has Man a Future?, fasst seine Suche zusammen. Das Fragezeichen steht für anhaltenden Skeptizismus, für eine Neigung zu resignativer Traurigkeit. Aber das ganze Leben des alten Fuchses, so wunderbar in seiner Vielfalt und Schöpferkraft, war ein einziges Streben nach einer positiven Antwort.“

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