„Die Lücken in meiner Familiengeschichte musste ich wie bei einem Puzzle auffüllen“

Die vielseitige Künstlerin Marika Lichter erzählt in ihrem Soloabend Ich habe (k)ein Heimatland in den Kammerspielen des Theaters in der Josefstadt zum ersten Mal von den Erlebnissen ihrer Eltern während der Shoah und ihrer eigenen Identität als Jüdin. Mit zahlreichen Liedern – vom jüdischen Tango bis zum Musical-Song – illustriert Lichter sowohl das Gefühl des Fremdseins wie auch der Zugehörigkeit.

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Marika Lichter erzählt in ihrem Soloabend über ihren Lebensweg – und ihre jüdischen Eltern. ©Reinhard Engel

WINA: Wie entstand die Idee zu Ihrem Soloabend Ich habe (k)ein Heimatland in den Kammerspielen des Theaters in der Josefstadt?
Marika Lichter: Es sollte eigentlich eine musikalische Erinnerung an den 100. Geburtstag von Gerhard Bronner werden. Bereits vor drei Jahren haben wir begonnen, mit Direktor Herbert Föttinger darüber nachzudenken. Die Autorin und Dramaturgin Susanne F. Wolf hat dazu verschiedene Ideen entwickelt: Zuerst dachten wir, dass ich eine Bardame in der legendären Fledermaus-Bar spielen sollte, die einem jungen Kellner aus dem Leben und Schaffen Gerhard Bronners erzählt und seine Lieder interpretiert. Aber keine Idee hat wirklich gezündet, denn ich kann zwar jede Frauenrolle spielen, aber keinen Mann – und solch einer müsste doch auf der Bühne erscheinen. Da ich mit Herbert Föttinger schon etwa 26 Jahre befreundet bin und er auch meine Eltern noch kannte, erzählte ich ihm immer wieder Geschichten aus meiner Familie. Als wir mit dem Bronner-Abend nicht vom Fleck kamen, sagte er plötzlich: „Vergiss’ das, deine persönliche Geschichte ist viel besser!“

Und wie haben Sie darauf reagiert?
I Meine Antwort lautete spontan: „Nein, ganz sicher nicht! Das kann ich nicht!“. Doch irgendwie ließ es mich nicht los, weil ich mich an die Schachtel erinnerte, die ich erst ein halbes Jahr nach dem Tod meiner Mutter gefunden hatte – davor hatte ich es nicht geschafft, die Wohnung, in der ich auch aufgewachsen war, zu betreten. Ich hatte diese Schachtel, ohne sie zu öffnen, mit nach Hause genommen und einfach verräumt. Ich habe nicht hineingeschaut, ich war damals noch nicht bereit dafür. Als die Entscheidung für das Stück gefallen war, habe ich die Schachtel aus ihrem „Versteck“ geholt. Ich bin mit dem Inhalt zwei Nächte im Bett gesessen und habe geweint.

Was haben Sie in dieser Schatzkiste entdeckt?
I Da waren hauptsächlich Fotos und Dokumente von meiner Mama, ganz wenig von meinem Papa. Anhand dieser vergilbten Unterlagen versuchte ich, Teile meiner Familiengeschichte wie in ein Puzzle einzufügen. Da gab es Formulare für Visa-Anträge, die meine Eltern ausgefüllt hatten, um nach Amerika und Australien auszuwandern; ich kannte bis dahin nicht einmal die Vornamen meiner Großeltern väterlicherseits. Nur durch meine beiden Vornamen Mariza/Miriam und Rachel war klar, wie die Großmutter geheißen hatte. Mein Vater, Jahrgang 1917, hat nie über seine Verfolgung in der Shoah geredet. Erst aus den Dokumenten habe ich erfahren, dass er das Konzentrationslager Płaszów, südöstlich von Krakau, überlebt hatte und mit 27 Jahren aus dem KZ Theresienstadt befreit wurde. Meine Mutter war zuerst im Frauen-KZ Ravensbrück und wurde im April 1945 von der 9. US-Armee aus dem KZ Salzwedel befreit, einem Außenlager des KZ Neuengamme.

Ihre Mutter hat mehr erzählt?
I Etwas mehr – und doch zu wenig. Sie hat mir die meisten dieser Fotos und Dokumente nie gezeigt und auch nie gesagt: „Hast du Fragen?“. Ihr schlimmstes Trauma hat sie mir dann doch anvertraut: Sie ist mit 36 kg auf einem Leichenberg unter Toten gelegen; Das war glücklicherweise gerade, als das Lager befreit wurde. Ein amerikanischer Soldat hat gesehen, dass sich da noch etwas bewegt, und sie gerettet.

Wie und wo haben sich Ihre Eltern kennengelernt?
I Meine Mutter ist nach Budapest zurückgekehrt, Familie gab es keine mehr. Nach der Befreiung in Polen ist mein Vater ebenfalls nach Ungarn gekommen, und eine gemeinsame Freundin hat die beiden miteinander bekannt gemacht.

Erzählen Sie uns etwas über den Aufbau des Soloabends?
I Der erste Teil erzählt von meinen Eltern, denn ich bin „made in Hungary, born in Vienna 1949“. Vor dem Rabbiner hatten meine Eltern schon 1946 in Budapest geheiratet; 1949 dann standesamtlich. Sie wollten ja ursprünglich in die USA oder nach Australien weiterziehen, Wien war damals nur als Durchgangsstation gedacht. Die Eltern waren mir später sehr dankbar, dass ich Keuchhusten bekommen habe und uns deshalb die Einreise verweigert wurde.

»Als die Entscheidung für das Stück gefallen war,
habe ich die Schachtel aus ihrem „Versteck“ geholt.
Ich bin mit dem Inhalt zwei Nächte im Bett gesessen
und habe geweint.«
Marika Lichter

 

Der zweite Teil befasst sich dann mit Ihrer Karriere?
I Eher mit meinem Lebensweg und auch meinem Zugang zum Judentum: Das kann man ja kaum voneinander abstrahieren.

Sie haben langjährige Bühnenerfahrung: Sie waren bereits in jungen Jahren Schlagersängerin und studierten gleichzeitig Operngesang. Sehr erfolgreich waren Sie später als Operetten- und Musicalsängerin, Schauspielerin und Agenturchefin. Und seit 2017 sind Sie sogar Intendantin des Musical-Sommers Winzendorf. Obwohl Sie bereits mit 15 Jahren Mitglied der Folkloregruppe Les Sabres waren, mit der Sie viele Auftritte absolvierten und eine Schallplatte mit dem Titel Schalom Alechem aufgenommen hatten, erzählten Sie erst 2017 in Ihrer Biografie Mut kann man nicht kaufen von ihren Eltern, ihrer Familie und dem Leben als jüdisches Mädchen in Wien. Dazwischen wurden Sie kaum als jüdische Künstlerin wahrgenommen?
I Ja, das ist richtig, aber es hat sich irgendwie nicht ergeben. Ich bin nach der Zeit mit den Sabres für Österreich bei vielen Festivals in Südamerika und Europa aufgetreten und habe dort auch zahlreiche Preise gewonnen. Wegen dieser Festivals hat meine Gymnasiallehrerin immer wieder geätzt, ob ich denn die Matura auch so gut schaffen werde wie das gleichzeitige künstlerische Engagement. Ich habe bereits mit 12 Jahren Klavier gespielt und wurde mit 14 als Gesangsstudentin am Konservatorium der Stadt Wien aufgenommen. Damals hieß es, halb ernst: „Nehmen wir sie zum Singen, vielleicht hört sie dann auf, Klavier zu spielen […].“

Spezifisch jüdische Programme haben Sie nicht gestaltet?
I Dazu hatte ich auch keine Chance: Ab 1978 habe ich am Theater an der Wien jahrelang Musical gesungen: zuerst in Mayflower, Die Gräfin vom Nachmarkt und der Robert Stolz Revue; danach war ich siebeneinhalb Jahre bei Gerhard Bronner in seiner Fledermaus-Bar und übernahm gleichzeitig die Partie der Adele in der Fledermaus von Johann Strauss. Dann kam die Zeit bei den Vereinigten Bühnen mit Les Misérables, Elisabeth und Die Schöne und das Biest – und vieles mehr.

»[…] bei diesem Abend geht es ans Eingemachte.
Und das ist wirklich schwer für mich.«
Marika Lichter


In Ihrem Soloabend in den Kammerspielen geht es nun um Ihre Familie, um Ihre Identität als Jüdin. Ist das eine neue Erfahrung?
I Sicherlich, denn bei diesem Abend geht es ans Eingemachte. Und das ist wirklich schwer für mich. Mitten in den Proben fragte ich mich noch: Will ich wirklich so viel von mir hergeben? Ich habe immer sehr gerne getanzt und gesungen, wurde nie zu etwas gezwungen, war fleißig und hatte eine große Selbstdisziplin. Ich war mir aber auch bewusst, dass ich eine familiäre Tradition fortsetze: Mein Großvater, Paul Spivak, war Opernsänger und gastierte sogar am Wiener Raimundtheater in der Rolle des Don José in Bizets Carmen. Im Tempel in Lemberg sang mein Vater als Kantor. Meine Mama hatte ein Klaviergeschäft in Budapest und importierte Bösendorfer-Flügel. Gemeinsam mit meiner Großmutter führte sie auch einen Klaviersalon, in dem einmal ein kleiner Bub am Klavier für großes Aufsehen sorgte: Das war der spätere Starpianist György (Georges) Cziffra.

Marika Lichter 1978 als „Dolly“ in der Uraufführung von Die Gräfin vom Naschmarkt am Theater an der Wien. ©Moritz Schell

Sie haben die Texte gemeinsam mit Susanne F. Wolf geschrieben und auch die Lieder ausgewählt. Wie kam es zu dem Titel Ich habe (k)ein Heimatland?
I
Diese Zeile stammt aus einem Lied und ist Teil eines jüdischen Tangos. Die Idee für das eingeklammerte (k), also „(k)ein“ Heimatland, stammt von mir. Die wunderbare Susanne Wolf, die zehn Jahre lang alle Uraufführungen für die Sommerspiele in Laxenburg geschrieben hat, bei denen ich unter dem Intendanten Jürgen Wilke die weibliche Hauptrolle spielen durfte, hat jetzt gemeinsam mit mir für unsere siebzehn Lieder recherchiert. Wir beide hatten so viele Ideen und Material gesammelt, dass Herbert Föttinger und der Dramaturg radikal kürzen mussten. Darauf drohte ich ihnen mit einem zweiten Stück, mit dem Titel Ich habe noch immer (k)ein Heimatland.

Wer begleitet Sie musikalisch an diesem Abend?
I Wir haben wunderschöne Songs ausgewählt, vom nostalgischen jüdischen Wiegenlied über Bei mir bist Du scheijn – ein Lied, das mein Vater meiner Mutter gesungen haben könnte – bis Jerushalajim shel zahav (Golden Jerusalem). Vier wunderbare Musiker, die viel Herz haben, die Klezmer Reloaded, werden mich begleiten: Maciej Golebiowski (Klarinette), Sascha Shevchenko (Akkordeon) sowie Pavel Shalman (Geige) und Christoph Petschina (Kontrabass). Für die szenische Einrichtung zeichnet der Direktor des Hauses, Herbert Föttinger, persönlich verantwortlich.

Seit 1990 sind Sie als Geschäftsführerin für den vom damaligen Bundeskanzler Franz Vranitzky gegründeten Gemeinnützigen Verein Wider die Gewalt verantwortlich. Was waren Ihre Beweggründe, diese Aufgabe zu übernehmen?
I Am 1. Mai 1990 hat Bundeskanzler Vranitzky am Rathausplatz eine Rede gehalten, in der er hervorhob, dass Gewalt in der Familie kein Kavaliersdelikt sei. Danach fragte jemand aus dem Kanzlerbüro Miriam Charim, ob sie eine Veranstaltung zu dem Thema machen könnte. Sie holte mich dazu, und es blieb an mir hängen. Vom anfänglich kleinen Projekt wurde ein Gemeinnütziger Verein mit Spendengütesiegel. Bis zur Pandemie konnten wir diese Benefizabende Wider die Gewalt dreißig Mal veranstalten. Mittlerweile gibt es schon Ableger wie Kabarett gegen Gewalt und seit einigen Jahren das Galadiner Wider die Gewalt in Innsbruck. Zusätzlich machen wir den Adventpunsch gegen Gewalt.

Sie und die Künstlerinnen und Künstler machen das alles unentgeltlich?
I Ja, natürlich. Es melden sich immer wieder neue Vereine, die dringend Geld für ihre Arbeit benötigen.

Sängern, Schauspielerin, Agenturchefin und Leiterin des Vereins Wider die Gewalt: Marika Lichters Leben ist ausgefüllt und erfüllt. Nun gilt es für den Publikumsliebling, im Rahmen eines sehr persönlichen Soloprojekts ein Stück weit zurückzuschauen. © Reinhard Engel

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