WINA: Vor genau fünfzig Jahren, blutjung und kaum mit dem Medizinstudium fertig, hast du dich mit einem 43-jährigen Schoah-Überlebenden aus Łódź vermählt, der in der Wiener Innenstadt zwei Ambulatorien für physikalische Medizin leitete. Wie kam es zu dieser ungewöhnlichen Begegnung und Liebe?
Hava Bugajer-Gleitman: Ich hatte damals einen Forschungsauftrag bei Ciba-Geigy (Heute Novartis) in Basel. Mit einem alten VW bin ich einmal von Basel nach Wien gefahren, um mir das Musical Der Mann von La Mancha anzuschauen. Am Abend, unterwegs zum Theater an der Wien, hatte ich eine Autopanne. Am nächsten Morgen war ich mit dem ÖAMTC im Café Europa verabredet. Als ich in das bummvolle Café hineinging, sprang ein fremder Mann auf und bot mir einen Platz an seinem Tisch an. Während ich auf meinen Termin wartete, kam ich mit dem Mann ins Gespräch. Am Abend gingen wir gemeinsam zum Heurigen, am nächsten Tag in die Oper. Spätestens dort, bei den Klängen von Rigoletto, habe ich mich über beide Ohren verliebt. Nicht ganz drei Monate später heirateten wir. Ein Detail am Rande: Auf dem Weg zu unserer Hochzeit in Israel übernachteten wir im Hotel Hassler an der Spanischen Treppe in Rom. Vom selben Hotel brachen wir 1998 auf jene Reise auf, auf der mein Mann siebzigjährig starb – so schließt sich der Kreis. Nach Richards Tod brachte ich seine Memoiren …
… aus der Kindheit und Jugend im Getto und dem KZ heraus – zuerst auf Deutsch, dann in englischer und hebräischer Übersetzung. Einige Jahre lang ging ich damit auf Vortragsreisen an Unis und Schulen in Österreich, Israel, Kanada, und den USA, um jungen Menschen eine weitere Perspektive über diese schreckliche Zeit zu eröffnen.

Das physikalische Ambulatorium Helia residiert seit 1903 am Fleischmarkt. 1965 übernahm es dein Mann, 1998 wurdest du medizinische Leiterin. Wie ließ und lässt sich ein so traditionsreiches Institut in das 21. Jahrhundert begleiten?
◊ In den rund 120 Jahren seit der Gründung haben sich die Möglichkeiten der medizinischen Therapie stetig weiterentwickelt. Dementsprechend werden die Geräte und auch die Räumlichkeiten regelmäßig an neue Gegebenheiten angepasst. Nur die Erwartungen der Patienten sind dieselben geblieben wie schon immer: Sie wünschen sich Empathie und kompetente Hilfe. Helia wurde vom jüdischen Arzt Dr. Neumann gegründet und geleitet. Sein Schwiegersohn flüchtete 1938 nach Shanghai und eröffnete das Ambulatorium gleich nach seiner Rückkehr wieder. Somit ist Helia das einzige Ambulatorium für physikalische Therapie, das mit Ausnahme der Jahren 1938 bis 1946 immer in jüdischen Händen war. Ich versuche mein Bestes, dieser Tradition und diesem Ruf gerecht zu sein.

In deiner israelischen Heimat wurden bereits Millionen Menschen gegen COVID-19 geimpft. Welche Erkenntnisse wurden seitdem über die Wirksamkeit gewonnen? Kann Österreich als Späteinsteiger zumindest von einigen dieser Erkenntnisse profitieren?
◊ Israel hat sich dazu verpflichtet, bei mindestens einer Million Geimpften genaue klinische Studien durchzuführen. Dank seiner hochentwickelten Logistik und Medizin ist das kleine Land dieser Aufgabe gewachsen. Glücklicherweise ist die Impfbereitschaft dort sehr hoch, vielleicht wegen dem starken Fortschrittsglauben der Bevölkerung. Der Fall Israel zeigt, wie wichtig es auch ist, beim Einkauf der Impfungen die richtigen Entscheidungen zu treffen: nämlich, dass die sofortige Eindämmung der Totenzahlen und eine schnellere Rückkehr zur Normalität weitaus mehr ins Gewicht fallen, als auf ein möglichst kostengünstiges Angebot beim Einkauf von Impfdosen zu warten. Dank dieser raschen Maßnahmen liegt jetzt der Beweis vor, dass schon nach der ersten Impfung ein zirka 52-prozentiger Schutz erreicht wird. Aktuell wird vermutet, dass sich nach der zweiten Impfung eine über 90-prozentige Resistenz einstellt – und dass geimpfte Personen das Virus nicht übertragen.

Wie gehst du als Ärztin mit Personen um, die Impfungen im Allgemeinen – oder der Corona-Schutzimpfung im Besonderen – skeptisch gegenüberstehen?
◊ Zumeist wurden diese Personen nicht richtig informiert oder mit falschen Informationen gefüttert. Da hilft oft ein aufklärendes Gespräch: Zum Beispiel über die steigenden Zahlen der erfolgreich Geimpften in Israel und weltweit wie auch über die relativ geringe Anzahl von Meldungen über Nebenwirkungen. Auch gegenseitige Verantwortung und Solidarität sind ein schlagendes Argument.

„Spätestens dort, bei den Klängen von Rigoletto, habe
ich mich über beide Ohren verliebt.“

 

2004 wurdest du Präsidentin von WIZO Österreich. Welche waren die spannendsten Projekte, die dich in dieser Rolle beschäftigt haben – und welche sind es für dich als Ehrenpräsidentin?
◊ Unsere sozialpolitischen Ziele können nur mit Spenden verwirklicht werden. Meine erste Priorität war daher das „Vernetzwerken“ selbstbewusster Frauen, die auf eigenen Beinen stehen und ihre Erfolge mit den Menschen in Israel teilen wollen. Auch gegenwärtig setze ich diese Arbeit fort, soweit das zurzeit möglich ist. WIZO Österreich unterstützt zum Beispiel eine Kinderbetreuungsstätte in Rechovot, wo über 90 Prozent der Kinder äthiopischer Abstammung sind. An einem meiner ersten Besuche dort merkte ich, dass alle Kinderwägen draußen im Regen standen und komplett durchnässt wurden: Das Geld für eine Überdachung fehlte, und überhaupt war die ganze Einrichtung schwer sanierungsbedürftig. Nachdem alle Arbeiten mithilfe von Spenden durchgeführt werden konnten, traf ich einem Vater, der gerade sein Kind abholte. Als er mich sah, sagte er: „Danke, dass sich nun jemand auch um uns kümmert.“

Dein eigener Sohn, Michael Gury Bugajer, maturierte 1997 an der American International School. Was hast du ihm auf seine Reise mitgegeben, und wohin zieht es ihn heute?
◊ Nach dem Besuch der AIS studierte Gury in England und konnte auf vielen Reisen seinen Horizont erweitern. Er ist heute ein weltoffener Mensch, der dank der hebräischen Muttersprache auch seine Verbindung zu Israel aufrecht hält. Ich hoffe, dass er sein Gespür für Ethik, Solidarität, und Respekt für seine Mitmenschen auch in Zukunft behalten wird. Als jüdische Mutter wünsche ich ihm natürlich das Übliche: eine Partnerin, die diese Werte teilt, und Kinder, denen er sie weitergeben kann.

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