Die Nicht-Demonstranten

Der allwöchentliche „Große Marsch der Rückkehr“ im Gazastreifen beherrscht seit Monaten die internationalen Schlagzeilen. Dabei wird übersehen, dass die meisten Palästinenser lieber zuhause bleiben.

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April 2018. Palästinensische Demonstranten spielen während der Auseinandersetzungen mit israelischen Sicherheitseinheiten Fußball am Gazastreifen. © Flash 90

Die jüngsten Proteste der Palästinenser in Gaza an der Grenze zu Israel haben weltweit Schlagzeilen gemacht. Nicht zuletzt wegen der Toten und Verletzten. Damit waren zwei Ziele erreicht: Aufmerksamkeit und die Darstellung Israels als der böse Part. Man warf der Armee, wie so oft, unverhältnismäßige Gewaltanwendung vor. Daran ist nichts neu. Und so fragte man sich auch diesmal wieder im Ausland, ob die Palästinenser denn nicht mit sanfteren Mitteln (als mit Schusswaffen) hätten davon abgehalten werden können, sich der Grenze zu nähern, mit Wasserwerfern oder Tränengas, so wie man das etwa von Polizeieinsätzen bei Demonstrationen gegen G7-Gipfel kennt.

Für die allermeisten Israelis ging es allerdings darum, ihre Grenze zu schützen. Und dieses Ziel sei wichtiger gewesen, schreibt Shmuel Rosner in der New York Times, als das Vermeiden von Toten auf der gegnerischen Seite. Und Israel habe in der Tat seine Grenze erfolgreich geschützt.

Auf die Frage, warum sich Tausende von Menschen in Gaza trotz aller Warnungen entschlossen hatten, sich diesem Zaun zu nähern, gab es eine ganze Palette von Antworten. Frust über die desolate Lage in Gaza, Zorn auf den zionistischen Feind, gegen den es sich leichter vorgehen lässt als gegen die mittlerweile zunehmend verhasste eigene Hamas-Führung. Letztere wiederum soll jeder Einzelperson 14 Dollar und jeder Familie 100 Dollar für die Beteiligung in Aussicht gestellt haben, wie der israelische Armeesprecher Ronen Manelis im Wall Street Journal erläuterte. Bei Verletzungen winkte ein Bonus von 500 Dollar. Demnach habe die Hamas auch alle ihre Befehlshaber und Funktionäre gezwungen, sich in ziviler Kleidung unter die Demonstranten zu mischen. Inzwischen hat auch ein Hamas-Sprecher behauptet, dass 50 von den 62 Getöteten (am 14. Mai) Mitglieder gewesen seien.

Die Hamas soll jeder Einzelperson
14 Dollar und jeder Familie 100 Dollar für die Beteiligung in Aussicht gestellt haben – bei Verletzungen winkte ein Bonus von 500 Dollar.

Und während das Augenmerk auf all jenen lag, die sich da von Woche zu Woche an der Grenze mit den israelischen Soldaten bekriegten, geht ein wenig unter, dass es von Anfang an viel weniger waren als angekündigt. Ursprünglich war von einer Million die Rede gewesen, also die Hälfte aller Einwohner. Eingefunden hatten sich dann beim ersten Protest etwa 20.000 Demonstranten, mehr sind es in den Wochen danach – selbst mit Hilfe der Mobilisierung durch die Hamas – nicht mehr geworden.

Die überwältigende Mehrheit ist somit zuhause geblieben. Ermüdet vom Alltag und abgekoppelt von der eigenen politischen Führung, die nicht in der Lage ist, ihre immer prekäreren Lebensverhältnisse zu verbessern. Kritik an der Hamas-Führung, wenn auch riskant, ist schon lange nicht mehr tabu.

Die innerpalästinensische Krise ist aber nicht nur auf die Hamas und Gaza beschränkt. So sind die Proteste – anders als befürchtet – (bisher) nicht ins Westjordanland übergeschwappt. Denn auch im Westjordanland ist die Popularität von Präsident Mahmud Abbas und der PLO-Institutionen in den letzten Jahren immer mehr geschwunden. Umfragen verweisen auf ein wachsendes Misstrauen in die Führung der Fatah ebenso wie in Abbas selbst. Dass er nicht zu gewaltlosen populären Protesten aufgerufen hat, erklären manche mit seiner Sorge, dass auch im Westjordanland die Menschen zuhause bleiben könnten – was dann ja aber nur einen weiteren Beweis für seine Unpopularität oder unzureichende Legitimität liefern würde. Und in Ost-Jerusalem wiederum bereiten sich einige Palästinenser gerade darauf vor, einen bereits 50 Jahre andauernden Boykott der israelischen Stadtratswahlen zu beenden. Sie wollen erstmals mit einer eigenen Liste bei den kommenden Wahlen im Oktober kandidieren. Das sind neue Strategien einer jüngeren palästinensischen Generation, die nicht mehr an die eigenen Institutionen als Vehikel für Veränderung glaubt. Weder an die Hamas noch an die Fatah. Und es ist nicht klar, wohin das führt. Werden diese palästinensischen „Millenials“ auf die Idee eines eigenen unabhängigen Staats verzichten und volle israelische Souveränität in den palästinensischen Gebieten akzeptieren oder sogar verlangen, wenn sie dafür die israelische Staatsbürgerschaft samt aller Rechte bekommen? Das wiederum wäre das Ende Israels als jüdischer und demokratischer Staat.

Vom Ende einer Ära ist in letzter Zeit viel die Rede. Der 83-jährige Kettenraucher Mahmud Abbas musste im vergangenen Monat gleich mehrmals im Krankenhaus behandelt werden. Sein Nachfolger wird vermutlich aus seinem Umfeld kommen, was einem „more of the same“ gleichkäme. Aber vielleicht entstehen in Zukunft ja auch neue Dynamiken. Vielleicht fördert die kommende Generation, durchaus global vernetzt, ja auch neue Führungsfiguren zutage.

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