„Die Opferlüge ist noch immer präsent“

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Aufarbeitung. Die Frage der Involvierung in das NS-System ist von nachhaltig weiterwirkender Brisanz./ © Mary Evans/ picturedesk.com. akg-images

Drei renommierte Wissenschafter zur Frage: Erinnerung als Pflichtübung oder gesellschaftliche Hygiene. Von Marta S. Halpert

Jene österreichischen Beamten, die in den diversen Ministerien und Kanzleien auch für Gedenktage zuständig sind, werden für ihre Chefs am 13. März 2013 ein paar bedeutsame Textbausteine zusammenstellen. Ist es doch der 75. Jahrestag des „Anschlusses“ Österreichs an Nazi-Deutschland. Das schicksalsträchtige Datum wirft die Frage auf, ob dieses Ereignis heute noch eine gesellschaftspolitische Bedeutung hat, oder ob es sich bei Erinnerung nur mehr um eine Pflichtübung handelt. Wird die obligate, kurze Pressemeldung der offiziellen Amtsträger noch irgendjemanden interessieren?

Der Kommunikationswissenschafter Professor Maximilian Gottschlich ist überzeugt, dass die Nostalgiker des Dritten Reiches dieses Datum in ihren Zirkeln entsprechend zelebrieren werden. „Im breiten gesellschaftlichen Bewusstsein Österreichs hingegen hat das Thema ‚Anschluss‘ keine Bedeutung. An Jahrzehnte lang verdrängte und verleugnete Geschichte lässt sich nicht nahtlos anknüpfen – selbst wenn man wollte. Aber in Österreich wollte man auch gar nicht“, konstatiert Gottschlich. Österreich habe erst nach der Affäre Waldheim 1986 langsam begonnen, sich der historischen Wahrheit zu stellen – da ist der dünne Faden historischer Vermittlung schon längst gerissen gewesen.

Waldheim-Debatte

Auch Heidemarie Uhl, Kulturwissenschafterin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, sieht die Neudefinition des historischen Bezugspunktes erst seit der Waldheim-Debatte: „Nach 1945 symbolisierte der März 1938 die These von Österreich als ‚erstem Opfer‘, das mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun hat. Heute herrscht weit gehender Konsens darüber, dass der März 1938 für den Beginn der NS-Herrschaft in Österreich und damit für die Mitverantwortung Österreichs an den Verbrechen des Nationalsozialismus steht.“

Gottschlich, der vor Kurzem im Czernin-Verlag die Studie Die große Abneigung – Wie antisemitisch ist Österreich? publizierte, sieht hierzulande die Erinnerung entweder als Nostalgie oder Inszenierung, um den Schein, um ein korrektes politisches Bewusstsein vorzutäuschen. „Die staatstragenden Akte sind kalendarische Pflichtübungen – sie haben keinerlei Entsprechung in der politischen oder medialen Alltagspraxis. Sonst würde es nicht nach wie vor einen 3. Nationalratspräsidenten geben, der Mitglied einer rechtsextremen Burschenschaft ist; sonst würde es nicht jenes beschämende Schweigen innerhalb von SPÖ und ÖVP geben, wenn es darum geht, antisemitische Aussagen und Taten zu verurteilen.“

Etwas weniger pessimistisch urteilt Heidemarie Uhl: „Die heiße Phase des Kampfs um das österreichische Gedächtnis – das Waldheim-Jahr 1986, das ‚Gedenkjahr 1938/88‘ – ist vorbei, die ‚Opferthese‘ ist Geschichte“, so die Expertin für Geschichtspolitik mit Schwerpunkt Nationalsozialismus. „Und mit dem Schwinden des Streitwerts verringert sich naturgemäß die öffentliche Aufmerksamkeit. Dennoch ist der März 1938 etwas Besonders: Dieses Datum gibt nach wie vor Anstoß für die Frage nach dem Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus – nicht nur auf staatlicher Ebene, sondern auch im lokalen Kontext, in den Institutionen.“ Als konkretes Beispiel nennt sie eine Ausstellung über die Geschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in den Jahren 1938 bis 1945  aus Anlass der 75-jährigen Wiederkehr des März 1938.

NS-Zeit keineswegs „aufgearbeitet“

„Der Perspektivenwechsel 1986/88 verlagerte den Blick vom Staat auf die Gesellschaft, auf das Verhalten der Österreicherinnen und Österreicher in den Jahren 1938 bis 1945. Die Frage der Involvierung in das NS-System ist von nachhaltig weiterwirkender Brisanz – nicht zuletzt in den Familien“, konstatiert Uhl, da die NS-Vergangenheit noch keineswegs „aufgearbeitet“, d. h. konsensual ausverhandelt worden ist. Darauf verweist das – im Gegensatz zu 1938 – noch immer umstrittene Datum „1945“: Wurde Österreich „befreit“ oder „besetzt“?

Es sei kein Zufall, dass an den entsprechenden Jahrestagen immer die Erfolgsgeschichte des Staatsvertrags 1955 das Jahr 1945 überschrieben hat, zuletzt 2005.

Erschreckend ist der Befund von Maximilian Gottschlich, der sich intensiv mit der Vorurteils- und Antisemitismusforschung befasst: „Nein, die Opferlüge geistert nach wie vor in den Köpfen der Menschen. Rund ein Drittel der Bevölkerung glaubt immer noch, dass Österreich erstes Opfer der Aggression Hitlers war. Rund ein Viertel weist den Opfermythos zurück, der Rest hat keine Meinung dazu.“ Gottschlichs Studie hat auch eine wachsende Erinnerungsmüdigkeit gezeigt: Rund die Hälfte der Österreicher ist der Meinung, dass etwa in der Schule ausreichend über den Holocaust informiert wird. „Es gibt heute nichts mehr zu ‚verdrängen‘ oder zu ‚tabuisieren‘ – was auch und von wem? Viel schlimmer: Das Thema hat an Bedeutung verloren, es interessiert niemanden mehr – außer vielleicht die wenigen Eliten.“

„Die Frage der Involvierung in das NS-System ist von nachhaltig weiterwirkender Brisanz.“

Ein kritischer Beobachter Österreichs ist der Historiker Robert G. Knight von der Loughborough University, derzeit wissenschaftlicher Beirat des Simon-Wiesenthal-Instituts und Autor der viel beachteten Publikation 
Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen, die Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung von 1945 bis 1952 über die Entschädigung der Juden (Böhlau, 2000). Im Gespräch mit wina konstatiert er eine klare Verlagerung zu einer selbstkritischeren Perspektive in den letzten 30 Jahren; dennoch glaubt er nicht, sagen zu können, „dass irgendeine Art von Gleichgewicht erreicht wurde“.

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