Die Sache mit dem Antisemitismus und dem Postkolonialismus

Ingo Elbe, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Privatdozent am Institut für Philosophie der Universität Oldenburg, legt mit seiner umfangreichen Analyse des Themenfeldes „Antisemitismus und postkoloniale Theorie“ einen Befund vor, der zu denken geben sollte. Er ortet einen „‚progressiven‘ Angriff auf Israel, Judentum und Holocausterinnerung“.

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Ingo Elbe, Philosoph und Sozialwissenschaftler, lehrt u. a. an der Carl-Ossietzky-Universität in Oldenburg und war maßgeblich an der Antisemitismusdebatte rund um den Historiker Achille Mbembe beteiligt, in dem er u. a. auf dessen HolocaustRelativierung hinwies. © Edition Tiamat

Ingo Elbes Fazit ist Besorgnis erregend: Postkoloniales Denken habe aus dem Antirassismus eine Weltanschauung gemacht, „die bisweilen Züge eines gegen jede Erfahrung abgeschlossenen Systems annimmt, insbesondere in der generalisierten Verdachtshermeneutik der Orientalismusthese und der Ablehnung des Colour-Blindness-Universalismus“. Diese Weltanschauung bestehe darin, die für bestimmte Zusammenhänge gültigen Erkenntnisse des Antirassismus unzulässig auf andere Sachverhalte auszudehnen, theoretische Konzepte schablonenhaft zu verwenden, ohne empirische Gehalte zu prüfen, eine kulturrelativistische und machtreduktionistische Wissenskonzeption zugrunde zu legen und sich bei der Beschreibung der Realität „von politischen Ressentiments oder volkspädagogischen Absichten leiten zu lassen“.

Wer auf der Spezifik jüdischer Erfahrung beharre und den Antisemitismus von Linken und Minderheiten thematisiere, sei in dieser „Volkspädagogikgemeinschaft“ nicht mehr willkommen. Im Namen des Antirassismus und des Kampfes gegen rechts werde dabei Kritik am konservativen Islam ausgespart, Antisemitismus begrifflich eingeebnet, der Holocaust relativiert und im Zeichen des Kampfes gegen Rassismus und Nationalismus der Zionismus und der Staat Israel dämonisiert.

Es seien genau diese ideologischen Motive, die den Nährboden für die antiisraelische Radikalisierung erheblicher Teile des öffentlichen Diskurses seit dem „antisemitischen Massaker islamistischer Mörderbanden vom Oktober 2023 bilden“, so Elbe. Doch all das sei nichts Neues – der Umbau linker Theoriegebäude habe bereits Ende der 1970er-Jahre begonnen. Faktoren seien hier die immer deutlicher werdende Krise des Realsozialismus, die zur Formelhaftigkeit erstarrte Ideologie des parteioffiziellen Marxismus und der Niedergang vermeintlich säkularer nationaler Befreiungsbewegungen bei gleichzeitigem Aufstieg des Islamismus im Nahen Osten gewesen. Das alles habe zu einer politischen Identitätssuche der Linken geführt.

„Inzwischen haben wir es mit einer globalisierten ideologischen Offensive gegen Israel, Holocausterinnerung und Judentum zu tun, die
neben klassischen Rechten und Islamisten auch sich als links, antirassistisch und postkolonial
verstehende Akteure vollziehen […].“

Dazu seien die indischen „Subaltern Studies“ und der südamerikanische „Dekolonialismus-Ansatz“ gekommen. Mit der Erforschung kolonialer Gesellschaften sei eine Infragestellung der als westlich bezeichneten Kultur einhergegangen. Im postkolonialen Diskurs sei zunehmend die Singularität des Holocaust in Frage gestellt worden, und in den US-amerikanischen Genozid Studies sei ab Mitte der 1990er-Jahre die Einordnung der Shoah in ein kolonialismustheoretisches AnalyseRaster erfolgt.

Geht es heute um die Bewertung der Ereignisse in Israel und in den palästinensischen Gebieten, schwanke das postkoloniale Milieu „stets zwischen einem pseudohumanistischen Gestus, mit dem palästinensische Gewalt zwar verurteilt, aber durch ebenso falsche wie manichäische ‚Kontextualisierungen‘ auf israelisches Handeln zurückgeführt wird, und offenen Sympathiebekundungen für den Hamas-Terror“. Paradigmatisch stehe hier für das Weltbild großer Teile der internationalen Linken die Einordnung des Pogroms vom 7. Oktober 2023 als „militärische Reaktion eines Volkes, das über viele Jahre hinweg erdrückende und unerbittliche staatliche Gewalt durch eine Besatzungsmacht erdulden musste“.

Täter-Opfer-Umkehr. Elbe blickt hier auch pessimistisch in die Zukunft: „Spätestens seit diesen Tagen müsste es jedem vernünftigen Menschen klar sein, dass eine Linke (aber nicht nur sie), die so verblendet ist, dass selbst ihre intellektuellen Leuchttürme nicht ansatzweise in der Lage sind, eine historisch auch nur halbwegs der Wirklichkeit entsprechende ‚Kontextualisierung‘ eines antisemitischen Massenmordes zuwege zu bringen, tatenlos zuschauen würde, wenn es zur Vertreibung und weitgehenden Ermordung der Juden Israels kommen sollte.“ Nachsatz: „Allerdings würde man dem nicht mehr nur tatenlos zuschauen, viele würden es vielmehr als Dekolonialisierung im Nahen Osten feiern und das Schicksal der Opfer bestenfalls als selbstverschuldet bezeichnen.“

Ingo Elbe: Antisemitismus und postkoloniale Theorie Der „progressive“ Angriff auf Israel, Judentum und Holocausterinnerung. Edition Tiamat 2024, 408 S., € 28

Detailreich führt Elbe in der Folge aus, wie sukzessive der Begriff Antisemitismus eliminiert wurde und wird – indem eine Gleichsetzung mit Rassismus erfolgt. Er beschreibt die Mechanismen hinter der Holocaust-Relativierung und schildert, wie Juden und Jüdinnen im Bereich des antirassistischen Aktivismus zunehmend als Störenfriede empfunden werden. Breiten Raum gibt er auch dem Phänomen der Dämonisierung des jüdischen Staates, also Israels. Und er behandelt eine weitere unerquickliche Facette des aktuellen Diskurses: das Verleugnen von islamischem Antisemitismus. Argumentiert wird dann zum Beispiel so: Durch Kritik am Islam wolle man nur vom eigenen Antisemitismus ablenken. In einem weiteren Schritt würden dann Muslime und Musliminnen gar als „die neuen Juden“ bezeichnet, sie würden für alle gesellschaftlichen Missstände verantwortlich gemacht. Es sei von „Islamophobie“ die Rede, die hier implizierte Angst vor einer muslimischen Weltbeherrschung habe „Verschwörungsmythen über die jüdische Weltbeherrschung abgelöst“.

Dem hält der Philosoph entgegen: Muslime würden nicht für sämtliche gesellschaftlichen Missstände verantwortlich gemacht, zum Beispiel nicht für Finanzkrisen und Börsencrashs. Auch seien die Vorstellungen jüdischer und muslimischer Weltbeherrschung nicht symmetrisch, da es im radikalen Islam solche Weltherrschaftsphantasien zuhauf gebe, „es aber keine reale jüdische Weltherrschaftsidee gibt“. Zudem würden antisemitische Verschwörungstheorien nicht abgelöst, sie würden sich im Gegenteil erschreckender Beliebtheit erfreuen.

Wer die Gedankengänge hinter mancher Stellungnahme von Politikern und Politikerinnen, aber auch NGOs oder internationalen Organisationen besser verstehen möchte, dem gibt Elbe mit diesem Buch einen guten Einblick in und Überblick über die Genese solcher Haltungen und Argumentationen.

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