„Die Soft Skills des Lebens sind meine Spezialität.“

Die 2015 von Ronni Nadler mitbegründete Initiative „Kids Corner“ kümmerte sich am Westbahnhof um Familien, die aus dem Syrien-Krieg geflüchtet waren. Den Jugendlichen Yazan, den er dort kennenlernte, begleitet er bis heute. Nadler ist gefragter Coach – für Menschen wie auch für Hunde.

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©Ronnie Niedermeyer

Wie hat der Kids Corner begonnen?
In den ersten, verrückten Tagen kamen täglich um die 30.000 Menschen mit Bussen und Zügen am Westbahnhof an. Zunächst waren mitten in der Haupthalle fünf Decken aufgelegt, darauf Spielsachen, Stofftiere, Naschereien. Ein paar junge Freiwillige haben musiziert. Während die Kinder am Boden herum kugelten, konnten ihre Eltern sich auf den Sitzbänken ein bisschen entspannen. Am zweiten Tag wurden aus den fünf Decken zehn. Langsam sprach es sich herum, es kamen immer mehr Einheimische und spendeten Spielzeug – oder auch ihre Zeit. Binnen einer Woche war die Sache so ausgeartet, dass die Halle praktisch blockiert war und die Bahnhofsverwaltung meinte: „So kann das nicht weitergehen.“ Sie überließen uns für ein paar Tage die Business Class Lounge der ÖBB. Diesen abgetrennten Raum richteten wir wie einen Kindergarten ein: Wickel-Ecke, Ruhebereich mit Pölstern, Lebensmittel. Die Firma Trzesniewski versorgte die Helfer wochenlang gratis mit Brötchen, von allen Seiten war eine tolle Solidarität zu spüren. Da die Grenze zu Bayern damals noch offen war, strandeten viele auf dem Weg nach Deutschland nur ein paar Tage lang hier. Die Kleinsten, von null bis vier Jahren, haben wir betreut – inklusive ihrer Familien.

Wie ging es weiter?
Als klar wurde, dass das Ganze länger dauern würde und uns die Bahnhofsverwaltung schon wieder heraus haben wollte, schaltete sich dann der damalige ÖBB-Chef Christian Kern ein. Er kam mit einem Assistenten, schaute sich alles an und meinte: „Ihr könnt dableiben. Auf die Miete kann ich verzichten.“ Und so war’s dann auch. Es kamen weitere Leute aus der jüdischen Gemeinde und haben warmes Essen aus dem Maimonides-Zentrum gebracht. Ende des Jahres machte Orbán die ungarische Grenze endgültig dicht und ab dann kamen am Westbahnhof keine neuen Flüchtlinge mehr an. Als auch die deutsche Grenze geschlossen wurde, sind die restlichen Leute in Wien geblieben. Es kam die Frage auf: Was machen wir mit ihnen? So ist der Verein Shalom Alaikum entstanden, der sich bis heute um diese Familien in Wien kümmert.

Was wurde aus dem Kids Corner, nachdem alle Flüchtlinge versorgt waren?
Zu Jahresende hat er sich wieder aufgelöst. Der Kids Corner war ja kein angemeldeter Verein, das war einfach ein Haufen junger Leute, Psychologiestudenten, Therapeuten, Pädagogen, die CliniClowns, die Roten Nasen, Musiker… Einmal kam Harri Stojka vorbei und hat mit den Kindern musiziert. Für die Kinder bedeutete es einfach ein paar Stunden, wo sie wieder lachen konnten. Den Erwachsenen war das kaum möglich – aber sie freuten sich zumindest, dass ihre Kinder abgelenkt waren. Währenddessen konnten sie ein bisschen schlafen. Es war aber nicht immer lustig – wir haben auch Kinderzeichnungen gesehen, wo wir Gänsehaut bekommen haben. Uns wurde immer wieder vor den Augen geführt, wovor diese Menschen eigentlich geflüchtet sind.

Welche Erkenntnisse hast du von dort mitgenommen?
Erstens, dass Kinder die größten Opfer des Krieges sind. Sie verstehen kaum, um was es geht. Zweitens, wie wichtig das Konzept des jüdischen Helfens ist – gerade bei den Nachbarn, mit denen wir politisch verfeindet sind. Miriam Tenner, Sonia Feiger und ich haben uns gegenüber den Flüchtlingen von Anfang an als Juden geoutet. Sie haben ja Essen mit Kaschrut-Stempel bekommen. Mir war kein einziger Fall der Hilfeverweigerung bekannt. Zum Teil gab’s sogar brüderliche und schwesterliche Umarmungen. Die meisten wussten, dass da nur Propaganda gemacht wird. Aber wir traten ja auch nicht als Israelis auf, sondern als Juden. Juden gegenüber Moslems. Und das hat eine ganz andere Ebene als Israelis gegenüber Syrer. Im Kids Corner ging es nicht um Nationen, sondern um Menschen.

»Wie wichtig ist das Konzept des jüdischen Helfens – gerade bei den Nachbarn, mit denen wir
politisch verfeindet sind.«

 

Es gab also keine unangenehmen Vorfälle?
Nur die Österreicher, die haben uns bespuckt. Von der Seite gab es immer wieder Stänkerer: „Wir kriegen nix, und ihr kriegt’s alles geschenkt.“ Wir mussten ein paarmal die Polizei rufen. Die stationierten WEGA-Beamten haben mit unglaublichem Fingerspitzengefühl agiert. Sie wussten, die geflüchteten Menschen hatten auf dem beschwerlichen Weg nach Österreich teilweise sehr schlechte Erfahrung mit Uniformierten gemacht und seien dementsprechend verängstigt. Langsam merkten die Ankommenden, hier stellt die Polizei keine Gefahr für sie dar. Die Beamten haben uns zu den Zügen begleitet – und wenn wir in der Nacht mit einer Gruppe über den Gürtel gehen mussten, weil eine Bleibe gefunden wurde, haben sie den Verkehr für uns geregelt. Da waren echt schöne Momente dabei.

Du betreust, beziehungsweise begleitest einen jungen Mann…
Yazan tauchte damals im Kids Corner auf und bot seine Hilfe als Übersetzer an. Er war selbst syrischer Flüchtling. Mit sechzehn war er aus Traiskirchen weggelaufen, weil er dort von einer afghanischen Bande malträtiert wurde. Ab dann war er wochenlang täglich von morgens bis abends bei uns – und hat nicht nur übersetzt, sondern auch mitorganisiert, Caritas-Kleidung ausgeteilt und was sonst noch zu tun war. So habe ich langsam seine Geschichte erfahren. Über Shalom Alaikum bekamen wir einen guten Kontakt zum Fonds Soziales Wien, die ihn dann offiziell übernahmen, womit er einen legalen Status bekam. Eine Zeit lang wohnte er bei mir und meiner Mutter, bis wir dann bei der Volkshilfe einen Platz für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gefunden haben. Er ist trotzdem weiterhin zu uns gekommen, hat mit uns gekocht und noch gelegentlich bei uns übernachtet.

Was ist Yazans Hintergrund?
Yazan kommt aus gutbürgerlichem Hause, der Vater ist Arzt und die Mutter Krankenschwester. Schon als Jugendlicher war er politisch aktiv und brachte in Damaskus eine regimekritische Schülerzeitung heraus. Als der Bürgerkrieg ausgebrochen ist, wurde er von der Geheimpolizei verfolgt. Er trat dann ohne seine Familie die Flucht an, auf dem klassischen Weg mit Schleppern, Booten und so weiter. Sein Vater hatte ihm achttausend Dollar mitgegeben, unterwegs wurde der Bursch aber überfallen und ausgeraubt. Außerdem wurde er in Ungarn mit K.O.-Tropfen außer Gefecht gesetzt und drei Tage lang eingesperrt, wobei Dinge passiert sind, über die er nur ansatzweise reden kann. Eine mir bekannte Psychotherapeutin hat ihm zehn Einheiten geschenkt, was ihm sehr geholfen hat. Und von meinem Nachbarn, John Bunzl, bekommt er Deutschunterricht. Er hat bereits die Studienberechtigungsprüfung gemacht, möchte Publizistik und Politikwissenschaft studieren.

Warum kommt der Rest der Familie nicht nach?
Sie wollen nicht. Sie warten auf den Frieden und werden dann ihr Land wieder aufbauen. Ihr Haus steht noch, sie haben sogar Strom und Wasser. Jetzt herrscht aber große Angst um Yazans Brüder: In Syrien werden junge Burschen einfach von der Straße aufgeschnappt und müssen kämpfen – ob für die reguläre Armee oder die sogenannten Rebellen. Die Brüder wurden also immer versteckt gehalten, nun haben sie aber einen erwischt und verhaftet. Für fünftausend Dollar wurde er dann wieder frei gelassen.

Wie reagiert dein Umfeld auf deinen Schützling?
Yazan hat von mir eine Kippa geschenkt bekommen und ich habe ihn mehrmals in die Synagoge mitgebracht. Natürlich habe ich vorher mit der Security gesprochen. Meine Tochter hat er außerdem bei ihrem Soziologiestudium unterstützt, indem er ihr als Interviewpartner zur Verfügung stand. Er möchte so viel zurückgeben, obwohl wir keine Rechnung offen haben.

Wo wohnt Yazan jetzt?
Inzwischen ist er volljährig und nicht mehr in einer Wohnbetreuung. Mit einem Kumpel aus Syrien teilt er eine Wohnung, die sie von ihrer Mindestsicherung zahlen. Da er jetzt offiziell arbeiten darf, sucht er einen Job, den er später auch neben dem Studium ausüben kann. Ich coache ihn dazu, wie man sich richtig bewirbt.

Coaching übst du ja auch beruflich aus. Wie bist du zum Coach geworden?
Mein gelernter Beruf ist Versicherungsfachmann. In der Versicherungsbranche war ich fünfzehn Jahre lang in allen Funktionen tätig: Verkäufer, Gebietsleiter, Verkaufstrainer… Dann habe ich begonnen, Mitarbeiter auszubilden und Führungskräfte darin zu coachen, wie man sie führt. Ich habe Teamentwicklungen betreut und Konflikte moderiert, wenn eine Abteilung mit der Anderen nicht konnte. Das war alles im Angestelltenverhältnis bei einem großen Versicherungsträger, der auch meine Weiterbildungen finanzierte.

Warum hast du aufgehört?
In der Zwischenzeit wurde mein Vater zum Betreuungsfall und 2012 reichte ich die Kündigung ein, um seine Pflege zu übernehmen. Als Einzelkind war es mir klar: Wenn nicht ich, wer sonst? Es war schon absehbar, dass er nicht mehr lange leben würde. Im Nachhinein genieße ich jede Minute, die ich mit ihm verbringen durfte. Er erzählte mir Dinge, die er mir in den fünfzig Jahren davor verschwiegen hatte. Tja, und jetzt ist die Mama dran. Die betreue ich jetzt. Nebenbei trainiere ich inzwischen mehr Hunde als Menschen. Ich bin ein Hundenarr und hatte immer eigene Hunde. Als mein letzter Hund 2012 starb, nahm ich mir keinen neuen mehr, weil ich bereits mit der Pflege meines Vaters beschäftigt war. Meine Hundesehnsucht habe ich also mit Hundetraining befriedigt. Durch Mundpropaganda hatte ich auf einmal um die vierzig Klienten.

Wie hilfst du Hunden?
Ein Hund weiß instinktiv gleich, was man von ihm will. Dem Menschen muss man mit großem Aufwand alles erklären. Zum Beispiel: Ein Hund steht im Aufzug und zittert. Der Mensch streichelt ihn und redet beruhigend auf ihn ein. Damit signalisiert er dem Hund aber, dass der Aufzug etwas besonderes und seine Angst also gerechtfertigt ist. Besser ist es, sein Zittern in diesem Fall einfach zu ignorieren, um ihm die Normalität der Situation zu vermitteln. Schon am dritten Tag hat der Hund vor dem Aufzug keine Angst mehr. Solche Dinge den Menschen zu erklären ist Teil meiner Arbeit. Als Hundetrainer musst du in Wirklichkeit mindestens genauso viel Zeit dafür aufwänden, den Menschen zu trainieren.
Gelegentlich werde ich noch von meiner alten Versicherungsfirma gebucht. Da geht’s dann um Kundenbeziehungsmanagement, Sensibilisierung, korrekten Umgang. Diese Soft Skills des Lebens – das ist meine Spezialität.

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