Es erklingt eine jüdische Melodie: Auf hochhackigen Schuhen bahnt sie sich vorsichtig einen Weg durch die Orchestermusiker, die abgestellten Blasinstrumente und ruhenden Celli. Das schmal geschnittene schwarze Kostümchen im Stil der 1940er-Jahre sitzt ebenso perfekt wie das gleichfarbige Beret, unter dem reichlich blonde Locken hervorquellen. Sunnyi Melles, der vielbeschäftigte Film- und Bühnenstar, peilt das Standmikro an der Bühnenrampe des Burgtheaters an, um ihren jährlichen Beitrag zum Life+ Celebration Concert 2018 zu leisten. Sie bringt etwas in das Programm, das bis dahin sowohl beim Motto Heimat als auch bei den Kostproben wagnerischer Musik dramatisch gefehlt hatte: Humor. Das Publikum dankt es ihr mit herzlichem Lachen und tosendem Applaus.
In bestem Brooklyn-Jiddisch hebt Melles zu ihrem wehmütig-witzigen Lobgesang an: Mit dem Text Why I Write in Yiddish von Isaac Bashevis Singer, einem glühenden Plädoyer des amerikanischen Literaturnobelpreisträgers für den Fortbestand des Jiddischen als lebendige Sprache, scheint die großartige Verwandlungskünstlerin die melodische Sprachfärbung und den lokalen Yiddish-Slang grandios verinnerlicht zu haben. „Singer war überzeugt, dass das Jiddische Vitamine enthält, die andere Sprachen nicht haben. Jedenfalls behauptete er, man fände kaum militante Wörter“, lacht Melles. „Es war ihm so wichtig, dass Jiddisch nicht ausstirbt und wieder ganz normal im Alltag gesprochen wird.“ Wieso kennt sie diese Sprachmelodie so gut? „Es ist mir sehr vertraut, aber den letzten Schliff habe ich mir in München bei Rabbi Israel Diskin geholt.“
Hat sie sich den Text für diesen Abend selbst ausgesucht? „Yves Kugelmann, ein vertrauter Freund, sagte mir: ‚Nimm Singer.‘ Gery Keszler lässt den Künstlern immer freie Hand. Für die Bühne habe ich es dann mit dem Regisseur Alexander Wiegold erarbeitet. Beim Thema Heimat dachte ich sofort an meine Familie. Meine geliebte Mama, die Schauspielerin Judith Rohonczy, floh beim Ungarnaufstand 1956 aus Budapest und war deshalb entwurzelt und traumatisiert.“ Sunnyi Melles, die am 31. Oktober im ZDF in der Rolle als letzte Kaiserin Auguste Viktoria im Dokudrama Kaisersturz zu sehen ist, spricht über ihre Jugend in Basel, als die Mutter 15 Jahre lang staatenlos war und sie selbst auch erst mit sechzehn einen Schweizer Pass bekam.
Jüdische Wurzeln. Emigration und Exil sind daher keine Fremdworte im Leben der Schauspielerin, die seit 1993 mit Peter Prinz zu Sayn-Wittgenstein verheiratet ist und deren Schwiegermutter die umtriebige bald 99-jährige Fotografin Fürstin Marianne zu Sayn-Wittgenstein ist. „Mein Vater Carl Melles, ein ungarisch-jüdischer Dirigent, ist zum Katholizismus konvertiert, um seine Mutter vor der Deportation der Nationalsozialisten in Budapest zu retten. Als dies gelang, ist er nach Kriegsende wieder zum jüdischen Glauben zurückgekehrt“, erzählt die 1958 in Luxemburg geborene Schauspielerin.
Ihre Mutter, eine katholische Aristokratin, spielte bereits als Stipendiatin am Nationaltheater in Budapest. „Aus politischen Gründen floh sie mit meinem kleinen Bruder auf dem Arm und meinem Vater durch den Wald nach Wien.“ Melles Eltern ließen sich scheiden, als sie zwei Jahr alt war. Carl Melles, ein erfolgreicher Dirigent, der unter anderem die Wiener, Berliner und Londoner Philharmoniker dirigierte und mit Solisten wie David Oistrach, Maurizio Pollini und Arthur Rubinstein zusammenarbeitete, blieb in Wien und wurde Österreicher. Judith Rohonczy spielte zwischen 1956 und 1958 sowohl am Theater in der Josefstadt als auch am Theater der Courage.
»Singer war überzeugt,
dass das Jiddische Vitamine enthält,
die andere Sprachen nicht haben.«
Sunnyi Melles
1960 emigrierte die Mutter mit den beiden Kindern in die Schweiz und arbeitete als Schauspielerin am Stadttheater Basel. Sunnyi hatte mit sieben Jahren ihre erste prägende Theatervorstellung gesehen: Das tapfere Schneiderlein, gespielt von Buddy Elias, einem Cousin von Anne Frank, mit dem sie eine große Freundschaft verband. Da ihre Mutter ständig im Theater beschäftigt war, wollte sie auch dorthin gehen. „Während und nach der Schule ging ich zu ihr ins Theater, es machte mich glücklich. Ich bin Schauspielerin geworden, bevor ich überhaupt auf die Idee kam“, lacht die mehrsprachige Künstlerin. Ihre erste Rolle bekam Sie mit zehn Jahren: Sie spielte in der Regie von Hans Hollmann in Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit. Mit 14 Jahren erhielt sie ihre erste internationale Filmrolle in Der Steppenwolf an der Seite von Max von Sydow.
Von 1978 bis 1979 besuchte Melles die renommierte Otto Falckenberg Schule in München und gehörte schon während ihrer Ausbildung zum Ensemble der Münchner Kammerspiele. Dort arbeitete sie mit Regielegenden wie Dieter Dorn und Thomas Langhoff in klassischen Rollen wie der des „Gretchen“ in Goethes Faust, in Shakespeares Troilus und Cressida oder Schillers Emilia Galotti. Am Bayerischen Staatsschauspiel brillierte sie in Yasmina Rezas Gott des Gemetzels. Unvergessen ist ihr Auftritt als Millionärrin (!) in Thomas Bernhards Immanuel Kant in der Regie von Matthias Hartmann 2009 am Wiener Burgtheater. Bei den Salzburger Festspielen verkörperte sie die Buhlschaft im Jedermann. Sie spielte im Oscar-nominierten österreichischen Film 38, auch das war Wien. In der Rolle der Frau Silberzweig kann man sie jetzt in dem humorvollen jiddischen Schweizer Kinofilm Wolckenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse bewundern.
Noch einer anderen Liebe widmet sich Sunnyi Melles: der Musik. Erst jüngst gestaltete sie mit dem Geigenvirtuosen Yury Revich einen hinreißenden Abend in der ORANG.erie im Schönbrunner Tiergarten: Zu Camille Saint-Saëns’ Karneval der Tiere sprach sie den Text von Sir Peter Ustinov. Für 2019 ist ein Abend zu Ehren der großen französisch-jüdischen Schauspielerin Sarah Bernhardt im Musikverein geplant. Welchen Stellenwert hat das Jüdische in ihrem Leben? „Das kann ich gar nicht benennen, ich bin es einfach, das Bewusstsein war immer da.“ Daher fiel es ihr nicht schwer, mit dem Singer-Text den richtigen Nerv, das Herz und den Intellekt zu treffen. „Die Sprache, die man zuhause spricht, ist die Sprache deiner Seele. Vielleicht hat er mich da oben im Himmel gehört?“
Jetzt macht sie intensive Werbung: Sie wurde zur ehrenamtlichen Programmdirektorin und zum Vorstandsmitglied für die 32. Jüdischen Kulturtage München, Gesellschaft zur Förderung jüdischer Kultur und Tradition e.V. gewählt. „Judith Epstein, die Vorstandsvorsitzende, hat mir diese große Aufgabe anvertraut, was mich sehr dankbar macht.“ Die Vielbeschäftigte ist sehr stolz, dass es ihr gelungen ist, für das Eröffnungskonzert A Tribute to Leonard Bernstein am 17. November im Münchner Gasteig nicht nur 13 Mitglieder der Wiener Philharmoniker, sondern auch die israelische Sopranistin Chen Reiss, Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper, zu gewinnen. Gespielt wird Gustav Mahlers 4. Sinfonie in der Bearbeitung von Erwin Stein.