Drei starke und sensible Frauen aus Prag

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Buchcover Marta Marková Unglück auf fast allen Seiten

Weibliche Rebellion und Kafkas Elternrevolte untersucht die Kulturpublizistin Marta Marková im Band Unglück auf fast allen Seiten. Von Marta S. Halpert

Es waren einmal drei Mädchen, geboren im Fin de Siècle. Sie beschworen ihre Selbstständigkeit, ihre Freiheit und Liebe. Sie waren durch die gleiche Art der Bewegung, der Sprache, der Frisur wie auch der Kleider verbunden, die sie – mitten im Ersten Weltkrieg – wie griechische Göttinnen ungeschminkt trugen: selbst entworfene lange, fließende, vielfarbige Togen.“

Durch die Beschreibung dieser scheinbar oberflächlichen Äußerlichkeiten erweckt Marta Marková den Eindruck von unbesorgter Leichtigkeit: Und sie weckt damit auch die Neugier auf drei außergewöhnliche Frauen, die gegen ihre autoritären, tschechisch-patriotischen Väter revoltierten, um einerseits ihre eigene Identität im Zuge der gesellschaftlichen und politischen Umbrüche der Zwischenkriegszeit in Mitteleuropa zu finden, um dann andererseits als emanzipierte und erfolgreiche Frauen zu Wegbegleiterinnen noch bekannterer Männer zu werden.

... drei Mädchen, geboren im Fin de Siècle. Sie beschworen ihre Selbstständigkeit, ihre Freiheit ...

Faszination für Frauen

Die facettenreichen Schicksale intellektueller Frauen aus dem mittel- und osteuropäischen Raum üben auf die Kulturpublizistin Marta Marková seit jeher große Faszination aus. 1996 erschienen neun Porträts tschechischer Frauen unter dem Titel Olga Havlova oder Über die Würde der Frauen. 1947 in der Tschechischen Republik geboren, studierte Marková an der Fakultät für Sozialwissenschaften und Publizistik der Prager Karlsuniversität und arbeitete anschließend für Rundfunk und Verlage. 1980 emigrierte sie nach Österreich und arbeitete als Lektorin an der Universität Innsbruck. Als Nachlassverwalterin der bekannten jüdischen Schriftstellerin, Psychologin und Frauenrechtlerin Alice Rühle-Gerstel, die in Deutschland der Zwischenkriegszeit vor allem durch ihre individualpsychologischen und feministischen Arbeiten berühmt geworden war, widmete sie sich deren Werk. Der Höhepunkt dieser Arbeit über die 1894 in Prag geborene Schülerin von Alfred Adler war die 2007 im Innsbrucker Studienverlag erschienene Biografie Auf ins Wunderland! Das Leben der Alice Rühle-Gerstel.

Ende 2011 veröffentlichte Marková im selben Verlag das akribisch recherchierte Buch über Kafkas Elternrevolte und weibliche Rebellion: Milena – Staša – Jarmila mit dem Titel Unglück auf fast allen Seiten. Durch die intensive und verständnisvolle Beschäftigung mit Frauen unterschiedlichster Provenienz und derer teils dramatischen Lebensläufe führt uns Marková durch die Geistesgeschichte Mitteleuropas.

Ein Brief Franz Kafkas und die Schilderung des ersten tschechischen Mädchengymnasiums Minerva sind die Aufmacher zu drei Einzelporträts: Milena Jesenská, Staša Procházková und Jarmila Ambrožová waren schillernde Persönlichkeiten in Masaryks demokratischer Tschechoslowakei, in der Welt der Prager Deutschen und vor dem Hintergrund der Spannungen zwischen Juden und tschechischem Nationalismus. Am Beispiel dieser drei Frauen, die mutig gängige Konventionen sprengten, um ihre Sehnsüchte und intellektuellen Bedürfnisse zu befriedigen, zeichnet Marková die gesellschaftlichen Tabus und deren Überwindung meisterlich nach. Vom Nationalismus und Antisemitismus in ihren Familien abgestoßen, fühlten sie sich zu jüdischen Literaten und Verlegern hin-und von der kommunistischen Idee angezogen. Bei der umfassenden Recherche über diese aufregenden Frauenschicksale fand Marta Marková auch zahlreiche bisher unbekannte Dokumente: Sie zeigt das politische Umfeld und seine Akteure jener Zeit ebenso auf wie die weit verzweigten kulturellen Verbindungen entlang der fruchtbaren geistigen Achse PragBerlinParisWien in der Zeitspanne von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts.

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Milena Jesenská, die bis heute wegen ihrer Korrespondenz mit Franz Kafka als die bekannteste der drei Frauen gilt, wird von Marta Marková weit über diese Funktion hinaus porträtiert: Als die 24-jährige Milena im Jahr 1920 den 13 Jahre älteren Kafka kennen lernt, lebt sie mit dem Literaturkritiker Ernst Pollak in Wien. Ihre Ehe ist unglücklich und sie sehnt sich nach dem Leben in Prag. Aber sie entdeckt den deutschsprachigen Literaten Franz Kafka, der bis dahin den tschechischen Lesern kein Begriff ist. Milenas Übersetzung von Der Heizer erscheint im April 1920 in einer tschechischen Literaturzeitschrift. Jesenská schloss sich, wie damals viele Intellektuelle, wegen der wachsenden Bedrohung durch den Nationalsozialismus der kommunistischen Bewegung an. Doch das Regime Stalins stieß sie bald ab. Weniger bekannt sind ihre lebensgefährlichen Aktionen bei der Fluchthilfe für jüdische Menschen nach der Besetzung Prags durch Nazi-Deutschland.

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Milenas innigste Freundin war Jarmila Haasová-Necasová (1896–1990), die Marková als die weiblichste und vitalste bezeichnet. „Schon in ihrer Jugend inspirierte sie eine Reihe von bedeutenden Malern und Schriftstellern. Zu ihren Lebenspartnern gehörten Josef Reiner, Willy Haas, Egon Erwin Kisch und andere.“ Sie war Kischs Freundin und Vertraute, die von ihm autorisierte Übersetzerin aller seiner – generell in deutscher Sprache verfassten – Werke ins Tschechische. Das letzte Buch, das zu seinen Lebzeiten erschien – Die Entdeckungen in Mexiko (Globus Verlag, Wien) –, widmete er Jarmila am 16. September 1947 als „Autorin der Bezeichnung ‚rasender Reporter‘, dem ich vollkommen zustimme“.

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