„Du wirst sozial isoliert“

Der Journalist und Social-Media-Berater Ruşen Timur Aksak versteht sich als liberaler Muslim. Als solcher geht er mit seiner Glaubensgemeinschaft hart ins Gericht, wenn es um den Umgang mit Islamismus, aber auch Antisemitismus geht. Im Gespräch mit WINA plädiert er für eine Säkularisierung des Klassenzimmers.

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„Ich bin einfach nur stur.“ Ruşen Timur Aksak über sein mutiges Anschreiben gegen gefähliche „Missverständnisse“. © Linda Tomschiczek

Ruşen Timur Aksak, 1985 in Kufstein geboren, wuchs als Sohn von türkischen Gastarbeitern auf. Die Mutter, erzählt Aksak heute, tat alles, damit die Kinder gut Deutsch lernen und Anschluss finden: Sie bringt sie bei einer Tagesmutter unter, meldet sie in der Musikschule und im Sportverein an. „Ich war privilegiert im besten Sinn des Wortes, weil ich im Gegensatz zu anderen türkischen Kindern ohne irgendwelche Sprachdefizite in die Schule gekommen bin.“ Nach der Volksschule kann der Bub ins Gymnasiums wechseln, wo er problemlos bis in die Oberstufe kommt.

Dann allerdings verliert er sich etwas, wie er es heute formuliert, gerät auf die schiefe Bahn und scheidet aus der Schule aus. Aus diesen Jahren weiß er auch, wie schwer es sein kann, sich Gruppendynamik und dem Druck in einer Jugendgang zu entziehen. Dann kam aber der Punkt, an dem er sah, er müsse diesem selbstzerstörerischen Ansatz den Rücken kehren. Mit Unterstützung der Eltern holt er die Matura an der Abendschule nach und übersiedelt schließlich nach Wien, wo er an der Universität Wien das Studium der Politikwissenschaft absolviert. Hier erfährt er eine Art Kulturschock: Der Vater war in der Türkei ein linker Aktivist gewesen, so wurde der Sohn auch sozialisiert. An der Uni lernte er nun die Linke in realiter kennen, wie er es heute formuliert: „Das waren oft bildungsbürgerliche Kinder, mit denen ich mich überhaupt nicht verstanden habe. Ich habe sie für schräge Typen gehalten, die mir meine Welt erklären wollen. Sie waren die Linken, aber ich das Arbeiterkind.“

Als das Studium in die Zielgerade ging, hatte medial die Stunde der Integrationsseiten und -beilagen geschlagen. Eher zufällig stößt Aksak zum Integrationsportal des Standard, dastandard.at, wo er einige Jahre schreibt, ebenso wie später auch für Addendum.

Dann ein überraschende Move: IGGÖ-Präsident Ümit Vural fragt ihn 2019, ob er als Pressesprecher in die IGGÖ wechseln möchte. Aksak nimmt an, wissend, dass dieser Job eine Herausforderung sein würde. „Eigentlich hab ich gewusst, dass das in die Hosen gehen kann. Aber ich dachte mir, ich kann dann dennoch sagen, ich habe es probiert.“ Nach einem Jahr zog er sich von dieser Position zurück, vor allem, weil er auf der Führungsebene klare Entscheidungen vermisste. Seitdem ist er als freiberuflicher Social-Media-Berater vor allem für kommerzielle Kunden tätig. Seit ein paar Monaten ist er zudem Kolumnist in der Wiener Wochenzeitung Falter.

 


WINA: Sie schreiben seit diesem Sommer im Falter die Kolumne Einblick. Dabei vertreten Sie überraschende Positionen: Sie beschreiben etwa, wie moderate Muslime leiden, fragen, warum es keine Demonstrationen gegen Islamismus gibt, oder prangern anlässlich des Falles eines muslimischen Fähnrichs, der wegen eines antisemitischen Postings vom Bundesheer suspendiert wurde, an, dass diesem schließlich innermuslimisch attestiert wurde, Opfer von antimuslimischem Rassismus geworden zu sein. Wie suchen Sie die Themen für Ihre Kolumne aus?

Ruşen Timur Aksak: Die Themen fliegen mir eigentlich zu. Als mir Falter-Chefredakteur Florian Klenk angeboten hat, diese Kolumne zu übernehmen, habe ich zu ihm gesagt: Ich würde gerne einfach darüber schreiben, was mir gerade im Kopf herumschwirrt. Die Geschichte mit dem muslimischen Offizier kam mir zum Beispiel auf Instagram unter, darauf aufmerksam wurde ich durch ein Posting einer Bekannten von früher, einer muslimischen Aktivistin.

Ich habe mir den Account von dem Offizier herausgesucht und fand den Eintrag, der eine Karte Palästinas ohne Israel zeigte. Ich bin dann alle Kommentare unter dem Eintrag dieses Fähnrichs durchgegangen. Da gab es viel Blabla, mehr oder weniger aggressive Wortmeldungen, und dann fiel mir der Eintrag einer Mitarbeiterin der Dokustelle für antimuslimischen Rassismus auf. Und den empfand ich als grundfalsch. Man kann darüber diskutieren, ob man es positiv findet, Israel von der Landkarte zu löschen, aber es stellt sich dann schon die Frage, ob das legitim ist oder nicht. Als Offizier ist man aber letzten Endes Vertreter einer wichtigen Institution des Staates. Und da wird man nicht als Katholik oder als Muslim bewertet.

I Daher ist hier nicht die Frage, ob es sich bei der Suspendierung um eine Folge von antimuslimischem Rassismus handelt, sondern die Frage lautet, wie antisemitisch ist das? Und dann kommt jemand und meint, das ist gar kein Fehlverhalten, sondern struktureller antimuslimischer Rassismus. Das ist aber Blödsinn. Ja, es gibt Diskriminierung von Muslimen. Aber genau deshalb sollte man dieses Thema mit der Ehrlichkeit behandeln, die es verdient. In der Realität wird das Thema von manchen Akteuren gewisser Organisationen instrumentalisiert, um sich damit vor jedweder Kritik zu schützen. Wenn es Fehlverhalten gibt, muss man das aber auch benennen.

Ihr Standpunkt sorgt wahrscheinlich innerhalb der muslimischen Gemeinde für Gesprächsstoff. Welche Reaktionen bekommen Sie auf die Kolumne?

I Es gibt innerhalb der muslimischen Gemeinde in solchen Fällen zwei Aggregatzustände: Entweder man ignoriert dich, oder man versucht, dich als Nestbeschmutzer darzustellen. Auffällig ist, dass gerade jene, die für sich in Anspruch nehmen, besonders rechtschaffene Muslime zu sein, sich oft besonders unreif benehmen oder die Aggressoren innerhalb der Gemeinde sind. Und was mir auch auffällt: Gerade die, die sich in der Öffentlichkeit als Opfer von Rassismus melden, sind jene, die eher privilegiert sind. Sie haben ihr soziales, intellektuelles und politisches Kapital, sie kommen in öffentlichen Debatten zu Wort. Mit ihnen muss man nicht groß Mitleid haben. Vor allem aber sind es dann eben oft auch genau jene Akteure und Organisationen, die innermuslimisch sehr repressiv und autoritär auftreten. Man gibt sich also einerseits sensibel und setzt auf das Opfer-Narrativ, und wenn man in der Mehrheit ist, ist man brutal und rücksichtlos. Das ist eine toxische Atmosphäre.

Haben Sie solche Repressionen auch schon zu spüren bekommen?

I Ja. Du wirst sozial isoliert. Wenn du so unvorsichtig warst, einmal zu erwähnen, wer dein Steuerberater ist, wird dein Steuerberater angeschrieben. Freunde werden angerufen, und dabei wird Angst vor dir geschürt. Da wird dann zum Beispiel gesagt, du seist ein „Onkel Tom“. Du kannst dir dann aussuchen, ob du weitermachst wie bisher oder dich den Umständen ergibst und brav in den Schoß der angeblichen Hüter der Moral zurückkehrst.

Wie gehen Sie mit solchen Situationen um?

I Wenn man bei mir die falschen Knöpfe drückt, bin ich bereit, wirklich bis zum Letzten zu gehen. Das ist nicht unbedingt Mut, ich bin nur einfach sehr stur. Wenn mich jemand unter Druck setzt, reagiere ich ungut. Die einzige Art und Weise, wie man mich zum Schweigen bringen könnte, wäre durch Freundlichkeit. Das wird aber nicht verstanden.

Haben Sie sich auch schon direkt bedroht gefühlt?

I Es gibt Accounts auf X, vormals Twitter, die einen ad hominem attackieren. Das sind dann nicht unbedingt Morddrohungen, aber doch drohende Inhalte. Ich habe mir angewöhnt, hier rasch zu blocken, und Gott sei Dank kann man das auch. Das ist dann mit zwei, drei Klicks beendet. Ich glaube, das ist grundsätzlich eine wichtige Überlebensstrategie für Leute, die mit solchen Angriffen konfrontiert sind. Lesen, aber gar nicht darüber nachdenken und blockieren, sonst wird das zu einer psychischen Belastung. Wenn man sich dem aussetzt, muss man jedenfalls einen Modus finden, damit umzugehen. Meiner ist, dass ich mit solchen Leuten nicht interagiere. So kann ich meine innere Ruhe bewahren. Die stärkste Waffe im Arsenal dieses repressiven Milieus ist aber wirklich diese soziale Isolierung.

Gibt es andererseits auch Zuspruch von anderen Muslimen, die so denken wie Sie?

I Ja, natürlich. Aber mir geht es nicht darum, mit der Kolumne Zuspruch zu generieren. Ich freue mich, wenn Leute hineinlesen und dann nachdenken, ob diese Perspektive, dieser Ansatz auch für sie relevant ist oder fruchtbar. Und wenn das nicht so ist, kann der oder die einfach weiterziehen. Wir sind als demokratische Bürger dazu aufgerufen, ehrlich zu sein und die Meinungsfreiheit zu nutzen, um wichtige Themen anzusprechen. Und um es in aller Schroffheit anzusprechen: Leider habe ich das Gefühl, dass politische Korrektheit zwar gut gemeint ist, aber leider auch dahingehend mutiert, manche Debatten, die zu führen sind, nicht zu führen. Das nutzt leider Gottes oftmals jenen religiösen Kreisen, die ohnehin nicht gerade die allergrößten Demokraten sind.

Politische Korrektheit kann sich also ins Gegenteil verkehren?

I Ja, es wäre ein guter Ansatz, aber in der Praxis mit einer schlechten Nebenwirkung. Es muss in einer Demokratie auch möglich sein, dass keine Homogenität herrscht. Ich möchte es möglichst heterogen haben. Wenn sich also jemand an meiner Themenauswahl oder meinen Argumenten stört, dann kann er das gerne unter meinem Blog oder auf meinem TwitterAccount sagen, er soll mich nur nicht ad hominem attackieren. Sachliche Argumente lasse ich gerne gelten. Nur die kommen halt leider selten.

In einem Ihrer Texte für den Falter haben Sie beschrieben, wie Sie mit einem anderen Muslimen, der ähnlich denkt, zusammensitzen und dass es noch viele andere liberale Muslime gibt, diese aber zunehmend verstummen. Warum gehen die liberalen Muslime nicht mit einer gemeinsamen lauten Stimme nach außen?

I Wir haben einfach Angst. Mein Glück im Unglück ist, dass ich keine Frau und Kinder habe. Da ist niemand, vor dem ich mich rechtfertigen müsste. Wenn deine Frau religiös ist oder die Familie deiner Frau, wenn du insgesamt stärker in der Community verankert bist, das dein ganzes soziales Umfeld ist, wo dann traditionelle, muslimische Ansichten vorherrschen, ist so ein Bruch schwer und geht mit hohen sozialen Kosten einher. Diese Durchdringung des täglichen Lebens durch die Islamverbände und die Moscheevereine darf man nicht vergessen. Du hast eine Tochter, die bald heiraten wird, du kennst den Imam besser – wenn du da anfängst, gewisse Dinge anzuzweifeln, dann ist der Preis sehr viel höher als bei mir.
Ich komme aus einer säkularen Familie, die noch dazu nicht in Wien lebt, sondern in Kufstein. Meine Verwurzelung in der Community ist schwächer, weil ich nicht nur mit meiner Ethnie oder mit meiner religiösen Gruppe befreundet bin. Anderen würde es viel schwerer fallen, das zu äußern, was ich in meiner Kolumne äußere. Ich werfe es auch niemandem vor, diesen Bruch schlussendlich nicht zu wagen. Die Angst, dann sozial isoliert zu werden, ist groß und berechtigt. Und wofür? Dass man dann zu hundert oder zu fünfhundert oder zu tausend am Stephansplatz steht und sich gegen Islamismus ausspricht. Was bewirkt man damit? Und danach kommt der Backlash, das wird dir nicht verziehen. Das ist dann auch ein Rachemotiv.

„Mein Glück im Unglück ist, dass ich keine Frau und Kinder habe. Da ist niemand, vor dem ich mich rechtfertigen müsste.“
Ruşen Timur Aksak

Stichwort Islamismus und Radikalisierung. Mir fallen in den vergangenen Monaten in Wien zunehmend junge Mädchen und Frauen im öffentlichen Raum auf, die nicht nur Kopftuch, sondern Abaya tragen. Wie ist das zu interpretieren? Und wie soll die Gesellschaft damit umgehen?

I Im Grunde ist das ja eine Form der kulturellen Aneignung. Wenn Mädchen mit Wurzeln auf dem Balkan oder in Anatolien – dem begegne ich öfter, nicht selten handelt es sich hier um die Enkelinnen von Gastarbeitern – diese Abayas in quasi neumodischer Manier zu tragen beginnen, kommt das von woanders her – aus Saudiarabien, Kuwait, Katar. Und da muss ich sagen: Wenn wir etwas aus Saudiarabien brauchen, dann ist es das Öl. Aber wir brauchen nicht die dortige Weltanschauung, die mit salafistischem Gedankengut einhergeht. Genau das passiert aber über die Stiftungen und Fonds mit Wurzeln eben in Saudiarabien, Katar etc., die sich seit vielen Jahren ganz massiv am Westbalkan, aber auch bei uns engagieren. Da werden Moscheen und Schulen etabliert, in denen diese schroffe, salafistische, auch wahhabitische Lesart des Islam propagiert wird.

Mit dieser Lesart des Islam wirst du aber im Westen, in Europa nicht glücklich werden, und du wirst anecken. Das wird dann letzten Endes die Selbstidentifikation mit der schroffsten Art des Islam wieder bestärken, und genau das ist der Teufelskreis. Die große Tragödie ist, dass vor allem junge Muslime nach ihrer Identität suchen. Und auf Social Media treffen sie dann auf eine Interpretation des Islam, der mit restriktiven Verboten und Intoleranz einhergeht. Dazu kommen dann Abschottung und Assimilationsangst. Dass nun diese Enkelinnen der früheren Gastarbeiter das Bedürfnis entwickeln, auf die restriktivste und reaktionärste Form des Islam zurückzugreifen, ist bitter. Bitter ist aber auch, dass innerhalb der muslimischen Gemeinde die Auseinandersetzung mit diesem Problem fehlt. Teil des Problems ist, dass du auf Social Media jede Menge salafistische Prediger hast, die großen Zulauf haben – und nicht viel anderes.

Sind diese Mädchen und jungen Frauen, die sich also die Abaya aneignen, als extremistisch oder radikal einzustufen? Oder ist das nur Ausdruck eines Identitätsprozesses?

I Aus meiner Sicht ist das die denkbar schlechteste Art, sich mit der eigenen muslimischen Identität anzufreunden. Je schroffer und ablehnender ich gegenüber der Mehrheitsgesellschaft auftrete, desto radikaler werde ich auch wahrgenommen. Darauf folgt die noch stärkere Identifikation mit islamistischen – also radikalen – Narrativen. Und dann kann ich eben in einer westlichen, demokratischen Gesellschaft nicht glücklich werden. Die Betroffenen haben dann das Gefühl, mit ihrer Identität nicht akzeptiert zu werden, was in der Natur der Sache liegt, weil dann reaktionäre, eigentlich antifeministische und demokratiepolitisch bedenkliche Ansichten geteilt werden. Diese Ablehnung ist dann für sie aber die Bestätigung dafür, dass es strukturellen antimuslimischen Rassismus gibt. Und so geht der Teufelskreis immer weiter, wo dann am Ende mit einem immer größeren Unverständnis auf die muslimische Allgemeinheit geblickt wird. Ich finde es schade, dass den Kids auf Identitätssuche von den salafistischen Predigern im Netz die Anschauung vermittelt wird, wir Muslime gegen den Rest der Welt. Wenn du die Welt nur mehr in Muslime und Nicht-Muslime einteilst, hast du ein Problem, vor allem, wenn du in einer Gesellschaft lebst, die mehrheitlich nicht muslimisch ist. Gleichzeitig ziehen sich diese Jugendlichen dann immer mehr auf eine Auslegung des Islam zurück, der nur noch aus Ablehnung, Restriktion und Verboten besteht. Das finde ich schade.

„Dieses antijüdische Moment sitzt einfach in allen
Ritzen des
gesellschaftlichen Lebens drin.
Daher
habe ich auch nie jenen geglaubt, die sagten,
es gebe keinen muslimischen
Antisemitismus.“

 

Wie kommt man da als Gesellschaft wieder heraus? Wie sollte zum Beispiel auch Schule damit umgehen? Sollte es hier doch eine Debatte darüber geben, was akzeptiert wird und was nicht – zum Beispiel Kopftuch ja, Abaya nicht?

I Wie geht man damit um? Ich bin prinzipiell ein Freund säkularisierter Schule. Schule sollte kein Aufmarschgebiet für ethnische oder religiöse Abschottung sein. Ich bin also geneigt zu sagen, Schule ist ein säkularer Rückzugsraum, wo jeder quasi auch mal frei sein kann und in dem es keine Kreuze, aber auch keine Kopftücher und schon gar keine Abayas gibt.
Was das Kopftuch anbelangt, ist mein Vorbild meine Oma. Sie ist der frömmste und auch spirituell geprägteste Mensch, den ich kenne. Sie hat im Alter von 17 Jahren in einem Umfeld, in dem fast niemand Kopftuch getragen hat, begonnen, es zu tragen. Das war eine eigenständige Entscheidung, da gab es keine Gruppendynamik und keinen Gruppenzwang. Und sie fiel kurz bevor sie 18 Jahre alt wurde, ich glaube, das ist ein sehr gutes Alter. Menschen sollten in einem Alter, in dem sie als mündig angesehen werden, entscheiden, ob und wie sie ihre Religion leben wollen. Was ich auch anmerken möchte: Wenn wir heute über ein Kopftuchverbot diskutieren und uns in Wien in Brennpunktbezirken ansehen, was da von jungen muslimischen Mädchen getragen wird, ist das eine Vollverschleierung. Und das steht für nichts Gutes. Da sind wir weit über das Kopftuch hinaus.

Als Teil dieser Debatte ist dann von muslimischen Aktivistinnen und Befürworterinnen des Kopftuchs oft zu hören, hier gehe es um Emanzipation. Ist dem so?

I Wenn sich eine junge Frau wirklich eigenständig dafür entscheidet, passt es ja. Aber man darf nicht vergessen, wenn man schon frühkindlich indoktriniert wird, dann ist diese Argumentation nicht mehr legitim, denn welche Wahl hast du dann? Wenn dir von klein auf das Gefühl gegeben wird, du musst dich als Frau streng verhüllen und dein Job ist es, früh zu heiraten und Kinder zu bekommen – dann sehe ich keine Entscheidungsfreiheit. Dazu kommt, dass in den Schulen immer mehr selbst ernannte Sittenwächter herumlaufen. Kinder von klein auf zu indoktrinieren und sich dann auf die Wahlfreiheit zu berufen, das ist für mich einfach fake.

Welche Rolle spielt hier die Jugendorganisation Muslimische Jugend Österreichs?

I Sie steht leider für das Opfernarrativ und hat aus meiner Sicht das Thema des antimuslimischen Rassismus viel zu sehr politisiert. Für mich ist die Arbeit gegen Diskriminierung eine zivilgesellschaftliche und keine ideologische. Bei anderen Themen, wie etwa dem Eintreten gegen Antisemitismus, fehlt mir die Glaubwürdigkeit. Wenn man hier glaubwürdig sein möchte, müsste man sich jetzt auch in Hinblick auf muslimischen Antisemitismus, der derzeit virulent ist, im Netz wie auf der Straße, proaktiv engagieren. Man kann sich da nun nicht heraushalten, sich aber gleichzeitig als die Speerspitze zivilgesellschaftlichen Engagements präsentieren. Ja, klar, mit Themen, die unangenehm sind und bei denen ich in der eigenen Community mit Gegenwind rechnen muss, sind keine Blumen zu bekommen. Das wäre aber der Preis, wenn man sagt, wir sind eine muslimische Organisation und wollen am gesellschaftlichen Leben in Österreich teilhaben.

„Wenn du der Meinung bist, dass Israel ein
Apartheidstaat ist, dann kannst du schlecht glaubwürdig gegen
einen islamistischen Prediger argumentieren.“

 

Ein Phänomen, das auch bei linken Organisationen und Jugendorganisationen zu beobachten ist: Beim Novembergedenken gibt es eine Teilnahme mit betroffenen Gesichtern und dem Propagieren des „Niemals wieder“. Gleichzeitig ist es nicht einmal möglich, gegen eine Regierungsbeteiligung der FPÖ zu demonstrieren, ohne dass Pro-PalästinaVertreter einen Redner der Jüdischen Hochschüler:innen als Faschisten verunglimpfen. Dazu kommt der unermessliche Hass, der Juden, dabei vor allem jungen Menschen, von Muslimen seit dem 7. Oktober des Vorjahres auf Social Media entgegenschlägt. In der politischen Debatte wird gerne zwischen Islam und Islamismus beziehungsweise politischem Islam unterschieden. Angesichts dieses letzten Jahres stellt sich aber die Frage: Wie antisemitisch ist der Islam an sich?

I Eine der Lehren aus dem 7. Oktober ist für mich, dass dieser ritualisierte Philosemitismus eine Schimäre war. Das öffentliche Aufstehen gegen Antisemitismus funktioniert nur so lange, so lange es nichts mit einem selbst zu tun hat. Zum Islam ist hier zu sagen, man muss ja nur den Koran lesen: Da gab es ja schon den Urkonflikt von Mohammed und den jüdischen Stämmen und dann die Geschichte vom Juden Jesus, der in Konflikt mit der jüdischen Obrigkeit kommt. Daraus entstanden pseudomoderne Mythen und letztlich ein antijüdisches Feeling, wo der Jude für das Ungute steht, für Verrat und dafür, dass er Probleme macht. Das kenne ich auch aus meiner Kindheit. In der Türkei werden die Protokolle der Weisen von Zion bis heute als zeitgeschichtliches Dokument missverstanden. Das ganze Buch ist Mist, wenn man genauer darüber nachdenkt. Aber wenn du in dem Kontext aufwächst, dann denkst du nicht darüber nach, und dann braucht man sich nicht darüber wundern, dass Juden so negativ besetzt sind.
Dieses antijüdische Moment sitzt einfach in allen Ritzen des gesellschaftlichen Lebens drin. Daher habe ich auch nie jenen geglaubt, die sagten, es gebe keinen muslimischen Antisemitismus, und wer das sage, mache den Islam schlecht. Du kannst ja weiterhin ein frommer Muslim sein, und gerade deswegen solltest du ein Interesse daran haben, deine Religion besser dastehen zu lassen. Das gelingt aber nur mit ehrlicher Auseinandersetzung. Im Katholizismus ist das ja auch gelungen. Wie lange galten Juden da als Christusmörder – und nun definiert man sich nicht mehr über das Antijüdische. Der muslimische Antisemitismus ist jedenfalls kein neues Phänomen.
Was ich aber klar sagen muss: Dass er nun so stark aufgebrochen ist, hat auch damit zu tun, dass die ganzen selbsternannten zivilgesellschafltichen Akteure auch muslimischer Provenienz so tun, als wären das nur schreckliche Missverständnisse und Einzelfälle. Mich hat das, was da nach dem 7. Oktober aufgebrochen ist, nicht überrascht. Das einzige, was mich nach wie vor überrascht, ist der sehr legere, nachlässige Umgang damit. Wir reden oft davon, wie multikulturell und divers wir als Gesellschaft sein wollen. Das bedingt aber, dass nicht nur muslimische Menschen keine Diskriminierung erfahren, sondern auch jüdische Menschen. Solange jüdische Österreicher nicht unbehelligt hier leben können, unabhängig davon, was in Israel oder im Gazastreifen passiert, so lange können wir uns als ganze Gesellschaft nicht hinstellen und Antidiskriminierung einfordern. Für Muslime gilt hier besonders: Ich kann nicht für mich Antidiskriminierung wollen und gleichzeitig Aggressor sein. Antidiskriminierung ist keine Einbahnstraße. Und dann muss ich mich als muslimische Gemeinde auch damit auseinandersetzen, dass ich Teil des Problems bin.

Was würden Sie sich hier von der IGGÖ wünschen? Da gibt es dann ja durchaus offizielle Statements, die Antisemitismus verurteilen.

I Einerseits muss ich an dieser Stelle sagen: Es gibt diese falsche Vorstellung von der IGGÖ als mächtiger Organisation. Das ist sie nicht. Die IGGÖ ist ein kleines Büro im siebenten Bezirk mit fünf, sechs, sieben Mitarbeitern. Das wissen viele Menschen nicht. Was aber dennoch stimmt: Necmettin Erbakan, der Gründer von Milli Görüs, war ein Antisemit, und zwar ein ziemlich heftiger. Milli Görüs hat in der Wiener muslimischen Gemeinde eine wichtige Rolle, und das heißt, man müsste als IGGÖ dieses antisemitische Weltbild Erbakans zurückweisen und auch kritisch aufarbeiten.
Und grundsätzlich müssten die einzelnen Verbände und Moscheegemeiden ihre ideologischen und weltanschaulichen Standpunkte überarbeiten. Hier gibt es das Problem, dass viele Moscheen heimatverbunden sind und sich dann zum Beispiel die Ideologie des Iran oder der Türkei hierher an die Basis durchdekliniert. Da findet dann eine entsprechende Indoktrinierung statt. Hier müssten die Verbände und deren Repräsentanten Entscheidungen treffen, sich zu distanzieren. Und wenn sie als glaubwürdig erachtet werden wollen, sollten sie das am besten schon vorvorgestern gemacht haben. Wichtig wäre vor allem auch, den salafistischen Internet-Predigern etwas entgegenzusetzen. Sie haben ihre Chance nach dem 7. Oktober erkannt und haben hier massiv investiert. Muslimische Akteure dürfen ja konservativ sein, aber es wäre so wichtig, sich von diesen islamistischen Predigern, die leider gute Kommunikatoren sind, abzugrenzen. Was dazu allerdings nötig ist: Deine eigenen Positionen müssen stimmen. Und wenn du, zum Beispiel auch als Repräsentant einer Moscheegemeinde oder eines Verbands, der Meinung bist, dass Israel ein Apartheidstaat ist, dann kannst du schlecht glaubwürdig gegen einen islamistischen Prediger argumentieren.

Wenn ich Ihnen zuhöre, ist das Problem noch größer als allgemein angenommen, weil der Antisemitismus so stark verankert ist, dass er nur sehr schwer herauszubekommen und eben nicht nur bei Extremisten zu finden ist.

I Ja, das ist meine subjektive Einschätzung. Ich kann mich total irren. Hoffentlich irre ich mich. Ich glaube es nur nicht. Der Islam ist schwerfällig und in seinen Wertvorstellungen nicht klar genug abgegrenzt von islamistischen Narrativen. Wir müssen nun dafür sorgen, dass die Dinge nicht schlimmer werden. Und da braucht es vielleicht auch drakonische Maßnahmen in den Vereinen, um unseren Anspruch, eine diverse und multikulturelle Gesellschaft zu sein, zu schützen. Da wäre ich gerne dabei.

Sie sprechen Probleme innerhalb der muslimischen Gemeinde klar an und aus. Haben Sie nicht Sorge, dass das von der FPÖ missbraucht werden könnte?

I  Das ist ein häufig vorgebrachtes Argument. Tatsächlich ist mir so etwas auch vor einigen Jahren passiert. Damals ist ein Artikel, den ich auf dastandard.at geschrieben hatte, vom damaligen FPÖ-Chef HeinzChristian Strache auf seinem Facebook-Account geteilt worden. Mein Selbstbewusstsein hat angesichts dessen gelitten, das sage ich ganz offen. Ich bin aber in mich gegangen und habe nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen: Ich habe meinen Job gemacht. Der Beitrag war ok. Es war meine Aufgabe, Missstände zu thematisieren, und das habe ich gemacht. War die Geschichte sauber? Ja, sie ist passiert. Und wenn dann ein parteipolitisches Spektrum manche Themen auslässt und ein anderes sie aufgreift, ist das nicht meine Verantwortung. Zu sagen, Berichte über Missstände in muslimischen Verbänden oder Moscheegemeinden heizen antimuslimischen Rassismus an, ist meiner Ansicht nach nicht redlich. Als Journalist sah ich meine Aufgabe darin, Missstände aufzuzeigen. Da darf man nicht irgendwelche parteipolitischen Dynamiken im Hinterkopf haben.

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