Editorial

„Ich habe 60 Jahre gründlich nachgedacht. Und die Schlüsselerkenntnis ist, zu verstehen: Nichts existiert unabhängig.“ Dalai Lama

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Zäsur 2020, Besucher im wiedereröffneten Tel-Aviv-Museum. © flash 90

Die Zäsur des Sommers hat uns still und heimlich ereilt. Der Sommer, eine Zeit „in der es zu heiß ist, um das zu tun, wozu es im Winter zu kalt war“, wie Mark Twain einst feststellte, sind immer jene Monate, auf die unser aller Sehnsucht ausgerichtet wird. Zunächst auf den Urlaub wartend und danach im heißen Urlaubsrausch, schmieden wir Sommer für Sommer Pläne, dass ab jetzt alles anders wird, ruhiger, langsamer, achtsamer. Wir werden im und nach dem Urlaub dann viel gesünder essen, viel mehr lesen, viel mehr liebevolle Zeit mit der Familie verbringen und uns mehr bewegen.
Doch der Sommer 2020 ist auch in dieser Hinsicht anders als alle bisherigen. Zeit mit der Familie, die Beschäftigung mit unserer Ernährung und Bewegung, das Lesen … alle dies haben wir in der Quarantäne ausreichend durchgekaut, genug Vorsätze für nach der Quarantäne formuliert – und dann viele, mit Popcorn auf dem Schoß vor einer neuen Netflix-Serie sitzend, auch gleich wieder über Bord geworfen. Wie auch unsere Urlaubspläne, Bikinidiäten und Reisekataloge. Und die Hoffnung, dass wir den Sommer als die „Nach-der-Krise“-Freiheit erleben dürfen.
Nein, der Sommer 2020 hat weder die Leichtigkeit des Seins noch den schwülen Müßiggang in unser Leben gebracht. Viel eher eine heiße Beklemmung, die mit Clustern, Masken, Abstands- und Hygieneregeln gewürzt wird. Und nichts ist, wie es einmal war oder hätte sein sollen.
So gehen im Sommer 2020 nicht nur medial viele Themen unter: BlackLivesMatter, Plastic Free July, Fridays for Future, die Immer-noch-Realität zahlloser Menschen auf der Flucht, das Erstarken diktatorischer Tendenzen – sie alle stehen im Schatten von Wirtschaftsrettungspaketen, Arbeitsmarktstatistiken und der Vorstellung, dass die alte „Normalität“ als Maß aller Dinge schnell wieder etabliert werden muss.
2020 ist also auch der Sommer fest in Krisenhand und geht eher selbst baden, als er uns baden lässt. Gedrängte Strände, überfüllte Flughafenhallen und urbane Sommervergnügungsorte sind ein willkommener Motor der Pandemie. Zurückhaltung, Social Distancing, Urlaub auf Balkonien und griechischer Salat aus der eigenen Küche sind daher heuer eher angesagt und, wenn wir in uns gehen, auch gar nicht so übel. Urlaub ohne Pack- und Reisestress, Durchfallerkrankungen und Sonnenallergie – und vor allem ohne das Gefühl, es ist gleich vorbei –, ist nicht nur ökologisch nachhaltiger. Die gesellschaftliche Devise, nein: das allumfassende Diktat des Reisens erscheint in diesem Sommer in einem anderen Licht. Die einen empfinden es als Strafe, als Einschränkung. Für immer mehr Menschen aber steht auch die Urlaubsfrage symbolisch für eine Zäsur in unserem persönlichen Leben und in der Welt, in der wir leben. Und wenn all dies zu einem positiven Wandel führt, zu mehr Nachdenken, Achtsamkeit, Nachhaltigkeit, mehr Dankbarkeit und Solidarität, dann hat der Sommer 2020 zu einer nachhaltigeren Veränderung geführt als all die vielen Sommer unseres Lebens davor.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen sommerliche Freuden, Gesundheit und eine anregende Zeit beim Lesen unseres Sommerhefts 2020.

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