Als sich neulich bei einem beruflichen Zoom-Gespräch plötzlich mein Sohn aus dem Nebenzimmer eingeklinkt hat, musste ich kurz tief Luft holen, das Gespräch bald danach zu Ende bringen und an die frische Luft gehen. Sein Homeschooling-Kalender hatte sich durch einen falschen Klick mit meinem verbunden, die Zoom-Links wimmelten in Blau (er) und Orange (ich) über den Bildschirm, und keine*r kannte sich mehr aus … Er lachte, nur mir war nicht danach.
Es geht uns allen die Luft langsam aus: Wir haben schon genug Brote gebacken, Schränke aufgeräumt, Kräutergärten angelegt, Serien verschlungen und Meditationsapps heruntergeladen. Jetzt sind wir müde geworden. Und bitte nicht, mich hier misszuverstehen. Ich halte sehr viel von klugen Lockdown-Regelungen, die an gesellschaftliche und gesundheitliche Notwendigkeiten angepasst werden. Wer mich kennt, weiß, wie vorsichtig ich persönlich in dieser Pandemie agiere – zum Schutz aller.
Am Tag der gefallenen Soldaten Israels, am Yom haSikaron, fand letztes Jahr in Rishon LeZion ein stiller Protest vor dem bekannten gelb-blauen Möbelgiganten statt. Es waren Familienmitglieder gefallener Soldaten, die sich hier versammelt haben, um an die Toten zu erinnern. An jene, die ihr meist junges Leben für das Land geopfert haben. Sie taten dies, da die Militärfriedhöfe durch die geltenden Pandemiebestimmungen geschlossen waren. Das Möbelhaus nicht. Heuer wurden die Bestimmungen ein wenig gelockert.
Auch ich bekomme dieses seltsame Kribbeln, wenn ich an die vielen kleinen (un)entbehrlichen Dinge im blau-gelben Paradies denke und mich wieder zwischen bunten Servietten und Badezimmerutensilien Richtung Ausgang vorstelle. Doch das war einmal … bevor die Pandemie unsere Zeitrechnung durchschnitt und sich das Davor vom Danach – durch Angst, Trauer, Ratlosigkeit und eine lange Nachdenkpause – verabschiedete. Und nein, ich wünsche mir die Zeit der hektischen Verabredungen, der gedrängten Möbelhäuser, des „Sich-hübsch-Machens“ nicht zurück. Nicht so.
Ich habe mir von Beginn der Pandemie an gewünscht, dass wir alle innehalten, nachdenken, in die Stille hineinfühlen und uns dann ein „Danach“ kreieren, das für meinen Sohn, für alle unserer Söhne und Töchter eine Zukunft bereithält, in der sie atmen und durchatmen können. Und ich sage nicht, dass dies nicht geschehen wird. Denn die meisten wünschen sich das Gleiche.
Ich denke nur, dass nach so vielen Monaten auch mal gesagt werden darf, dass die Freude über gelungene Backversuche, witzige Durchhalte-Challenges und hübsch geblümtes Neobiedermeier einem auch hie und da vergeht. Denn behaupten zu müssen, dass „alles super“ ist, und sich dabei doch nicht „so super“ zu fühlen, gehört hoffentlich auch dem „Davor“ an.
Der Polarforscher Shackleton war mit seiner Mannschaft weit über einem Jahr im Eis gefangen. Danach berichtete er von einer Phase, in der Aggression, Disziplinverlust und Depression beinahe zur Meuterei geführt hätten. Die Situation beruhigte sich, vor allem mit Hilfe seiner bewundernswerten Führungsqualitäten, bald wieder, und die Mannschaft fand neue Hoffnung, neue Aufgaben und neue Kraft, um durchzuhalten.
Wenn wir uns der nachvollziehbaren Hoffnung hingeben, dass auch die Beulenpest den Tunnel aus dem Mittelalter zur Renaissance öffnete, dann haben unsere Kinder wirklich wunderbare Zukunftsaussichten. Da dürfen auch der Shackleton-Motivationseffekt, die Synchronisierungsfähigkeit von Onlinekalendern, die freudigen Träume über bunte Servietten und die Lust am Backen kurz Pause machen…
Und wir dürfen – ohne Gewissensbissen – kurz zugeben, dass gerade nicht alles „so super“ ist. Denn wir tragen die Erinnerung in uns daran, dass es dann doch immer weitergeht. Und ob dann dieses Weitergehen „super“ wird oder nicht, ist auch unsere Entscheidung. Nicht immer nur die der anderen.

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