Der Atemzug zwischen der Euphorie über fallende Masken und einen Hauch an Normalität und Freiheit und dem Sirenengeheul des Krieges war zu kurz, um richtig durchatmen zu können. Kaum haben die Israelis die Quarantäne verlassen, müssen sie auch schon zurück in die Enge ihrer Sicherheitsräume und Bunker. Erneut bringt ein bewaffneter Konflikt zwischen der Terrororganisation Hamas und Israel Angst und Trauer über die Region. Das ist nichts Neues, könnte man denken. Doch dieser Konflikt birgt einige neue Momente in sich, die einen mit Sorge erfüllen.
Anfang April tauchte das erste Video über den Social-Media-Kanal TikTok auf, in dem ein muslimischer Israeli einen orthodoxen Juden in einer Jerusalemer Straßenbahn ohrfeigt. Seither tauchen immer wieder Videos mit ähnlichem Inhalt auf und erinnern erschreckend an Aufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg.
(Das Foto ist Teil eines stillen Protestes gegen Gewalt im eigenen Land, gestartet von Frauen in Jerusalem.) Eine Ohrfeige ist erniedrigend, das wird jeder Psychologe bestätigen. Geohrfeigte Menschen sind keine kriegerischen Auseinandersetzungen, brennende Synagogen nicht der legitime Ausdruck politischer Kritik. Das sind eindeutig rassistisch, antisemitisch motivierte Gewaltakte. Und Gewalt schürt Gewalt – vermutlich ist das reines Kalkül – und stärkt damit die Extreme auf beiden Seiten. Zugleich werden aber auch die sozialen Medien genutzt, um zu angeblich israelkritischen Veranstaltungen aufzurufen, die derzeit europaweit vielerorts stattfinden. Die jüdische Bevölkerung des Kontinents zeigt sich besorgt über den on- und offline erfahrenen Hass und die rasch ansteigende Bedrohung: Flaggenverbrennungen vor Synagogen in Deutschland, Skandieren antisemitischer und rassistischer Propaganda in Wien, Amsterdam, London – es sind Reminiszenzen an die dunkelsten Jahre unserer Geschichte.
Der Konflikt in Israel ist bedrohlich und komplex – Emotionalität, Unwissenheit und Fake News machen ihn nur noch gefährlicher. Und mittlerweile haben nicht nur die Menschen der Region Angst. Doch Angst ist kein guter Ratgeber. Das haben wir spätestens durch die Pandemie begriffen. Sie hat in den letzten Monaten zu falschen Entscheidungen, Verschwörungstheorien und Aggression geführt, anstatt jede vorhandene Energie in die Lösung einer weltweit bedrohlichen Situation zu investieren. Sie hat dazu geführt, dass sich das Virus explosionsartig verbreiten konnte. Nach vielen Monaten unermüdlicher internationaler Forschung hoffen wir derzeit alle, dass die Impfungen nun das Ende der Pandemie bedeuten werden.
Rassismus, Antisemitismus und Verschwörungstheorien ähneln in ihrem Verhalten Viren: Sie mutieren schnell, damit wir sie nicht erwischen können. Doch nach Jahrhunderten rassistischer und antisemitischer Gewaltäußerungen und dem Versuch, diese zu analysieren, zu verstehen und zu verhindern, stehen wir im Mai 2021 erneut vor der Situation, dass wir keine wirklichen Gegenmittel gegen dieses Virus haben, das sich ebenso pandemisch wieder zu verbreiten versucht. Quarantäne hilft da wohl nichts. Wissen, ausgewogene Berichterstattung und Dialog auf allen Seiten könnten vermutlich zumindest maskenähnlich vor der Verbreitung schützen. Doch die Impfung, die uns alle einmal ein friedliches Miteinander erleben lässt, muss noch gefunden werden.