Editorial

„Und während wir jetzt einen der heißesten Sommer unseres Lebens erleben, sollten wir bedenken, dass dieser vielleicht einer der kühlsten Sommer für den Rest unseres Lebens sein könnte....“ Diana Ürge-Vorsatz, Klimawissenschaftlerin und Professorin an der CEU

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Den heißen Sommer genießen, denn der Winter folgt bestimmt. © wellington/pixabay

Endlich wieder Sommer! Endlich wieder ein Sommer zum Genießen. Und genau deshalb würde ich gerne auch hier nur über die sommerliche Leichtigkeit des Seins schreiben.

Nein, ich möchte jetzt nicht über die ungewöhnliche Hitze sinnieren, die uns in Zukunft vermutlich zu großen Zugeständnissen zwingen wird. Nicht über die dadurch entstehende Wasserknappheit, Walbrände und nicht über ihre langfristigen Folgen für Mensch, Tier und Umwelt.

Ein Sommer, der endlich wieder ein bisschen weniger von Covid-19 gekennzeichnet wird, in dem wir endlich ein wenig reisen, das Meer wieder genießen und fremde Länder besuchen können. Fast so ein Sommer, wie er einst war. Nein, ich möchte mich kurz nicht mit den rasant steigenden Infektionszahlen, den tragischen und langfristigen Folgen der Infektionen befassen. Und auch nicht damit, was uns im Herbst covidtechnisch erwartet.

Ich möchte gerne auf den nächtlichen Sommerhimmel blicken und die Sterne betrachten und mir dabei nicht überlegen müssen, ob die Flieger, die über unserem Urlaubsort in der Nähe eines NATO-Flughafens fliegen, glückliche Urlauber oder nervöse Soldaten transportieren.

Und während ich versuche, die aufgeheizten Räume ein wenig abzukühlen, möchte ich nicht darüber nachdenken, ob wir im Winter das Thermostat weiterhin unbedacht auf eine für uns angenehme Temperatur einstellen werden können, oder aus vielerlei Gründen versuchen werden, es ein paar Grade herunterzudrehen. Und ich möchte mir im herrlichen Sommerwetter kurz nicht vorstellen müssen, wie viele Menschen in Europa sich das Heizen bald kaum oder gar nicht mehr leisten werden können.

Und während ich mich endlich wieder durch herrliche Kunstausstellungen schlinge und die zahlreichen Sommerkulturfestivals genieße, möchte ich auch nicht darüber reflektieren, wie ein documenta-Skandal diesen Ausmaßes entstehen konnte. Wie im Jahr 2022 einer so renommierten Kunstinstitution in Deutschland eine derart offensichtliche Fehlentscheidung passieren kann. Und ob „zu viel“ Zeit seit der Shoah vergangen sei und jene hauchdünne Schicht der Scham, die in Europa solch antisemitische Artikulationen zumindest aus dem öffentlichen Leben für Jahrzehnte verbannt hatte, wieder brüchig geworden ist. Traut man sich wieder mehr!? Oder wird die Gesellschaft durch die Folgen der Pandemie, die kriegerischen Vorgänge an Europas Grenze, die Hungersnöte in Nordafrika und die Klimaerwärmung etwas unaufmerksam für die „Geschmackslosigkeiten“ des Alltags? Nein, über diese Entwicklungen und deren Folgen möchte ich bei herrlichem Sonnenschein und Vogelgezwitscher draußen auch nicht nachdenken.

Doch da drängt sich leider, kurz bevor ich mit diesen Zeilen fertig bin, noch die martialische Stimme eines europäischen Politikers dazwischen, der in der Hitze seines immerwährenden Gefechts diesmal vor Tausenden Anhängern bei einem sommerlichen Politfestival von „reinen und gemischten Rassen“ spricht, vom baldigen Untergang des Westens und von der Kriegsverzögerungstaktik Europas in der Ukraine. Und seine Stimme – wie auch die seiner Fangemeinde – ist so laut, dass ich nicht weghören kann. Und ich hoffe auch sonst niemand, denn diese Hassrede ist eine zu lebendige Reminiszenz an eine Zeit, die Leid, Tod und Grauen bedeutet hat.

Nein, ich möchte darüber in diesem Sommer nicht nachdenken – doch ich fürchte, das werde ich müssen, denn wie es bereits vor Jahren in der immer noch großartigen Fantasy-Serie Game of Thrones geheißen hat: Winter is coming*. Der Winter naht. Und seine kühlen Winde sind bereits im Sommer zu spüren.

 


*Winter is Coming: Why Vladimir Putin and the Enemies of the Free World Must Be Stopped, so lautet auch der Titel des Buches des russischen Schachweltmeisters und Oppositionspolitikers Garry Kasparov, das 2016 erschienen ist.

 

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