„Worte und Zauber waren ursprünglich ein und dasselbe.
Auch heute besitzt das Wort eine starke magische Kraft.“
Sigmund Freud

Am 9. November 1938 fegten jene Pogrome über Mitteleuropa, die sarkastischerweise als „Kristallnacht“ bezeichnet wurden. Jüdinnen und Juden, Kinder, Alte, Kranke wurden ermordet, in den Suizid getrieben, enteignet. Synagogen in Brand gesetzt, Gebetbücher verbrannt. Diese tödlichen Gewaltorgien waren, wie wir heute wissen, erst der infernalische Auftakt zur nationalsozialistischen Massenmord-Industrie. Sie legten den Grundstein für Leid und unbegreifliche menschliche Verluste – auch für viele folgende Generationen. Doch nicht die Pogrome, sondern die Worte standen am Anfang! Es begann viele Jahre zuvor. Es begann mit Worten. Alles begann mit Hassworten, mit Hassreden, mit Hassschriften.  

Worte sind mächtig. Sie beeinflussen unser Denken, unser Fühlen, unser körperliches Empfinden. Worte erzeugen Nähe und Distanz, Ruhe und Erregung. Sprache erschafft Erinnerung und Zukunftsplan. Und wir alle gestalten unsere Realität durch Kommunikation: „Natürlich ändert der Krieg die Sprache, ihre Architektur und ihr Funktionsfeld. Wie der Stiefel eines Eindringlings, eines Fremden, beschädigt der Krieg den Ameisenhaufen des Sprechens. Also versuchen die Ameisen – die Sprecher der beschädigten Sprache – fieberhaft, die zerstörte Struktur zu reparieren, das, was ihnen vertraut ist, was zu ihrem Leben gehört, wiederherzustellen. Irgendwann ist alles an seinem Platz. Aber diese Unfähigkeit, sich der vertrauten Mittel zu bedienen, genauer gesagt, die Unfähigkeit, mit den früheren – aus friedlichen Vorkriegszeiten stammenden – Konstruktionen deinen Zustand zu beschreiben, deine Wut, deinen Schmerz und deine Hoffnung zu erklären – ist besonders schmerzhaft und unerträglich.“* Dies sind einige Sätze aus der Dankesrede des ukrainischen Literaten und Musikers Serhij Zhadan, der für sein literarisches Werk sowie für seine humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde. Und dies ist kein Widerspruch, nicht in seinem Fall, nicht in diesem Fall. Zhadan fuhr an dieser Stelle fort: „Wie wird unsere Sprache nach dem Krieg aussehen? Was werden wir uns gegenseitig erklären müssen? Vor allem müssen wir die Namen der Toten laut aussprechen. Die Namen müssen genannt werden. Sonst kommt es zu einer tiefen Zerrissenheit in der Sprache, zu einer Leere zwischen den Stimmen, zu einem Bruch in der Erinnerung. Wir werden viel Kraft und Glauben brauchen, um über unsere Gefallenen zu sprechen. Denn aus ihren Namen werden unsere Wörterbücher entstehen.“ 

What happens when we forget to remember? Wir verlieren unsere Wurzeln, wenn wir uns nicht mehr erinnern – und mit ihnen unsere Schmerzen, aber auch unsere Fähigkeit, die leuchtenden Zeichen an der Wand zu erkennen. Und wir merken nicht mehr, wenn die Worte des Hasses wieder ins Fleisch schneiden, wenn Sprache wieder zur Waffe wird. Die Erinnerungen an die Schoah, an die Pogrome, an sämtliche Menschheitsverbrechen, aber auch an die Errettungen, an die Helfer, an die lichte Zeit, die nach der Dunkelheit kam, und an die unfassbare innere Kraft, mit der unsere Vorfahren überlebt haben, sind unser aller gemeinsame Alarmanlage und unser innerer Kompass. Nur mit Hilfe dieser Erinnerungen kann ein Wörterbuch der gemeinsamen Sprache entstehen, in der es keine Hasswörter mehr gibt.

* www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraeger-seit-1950/2020-2029/serhij-zhadan

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