Ein weltweiter Aufschrei der Empörung nach den Massakern vom 7. Oktober wäre doch ein kategorischer Imperativ, dachte man sich bis dahin. Doch dieser blieb aus. Stattdessen herrschte ohrenbetäubende Stille von Seiten jener, die sonst lautstark ihre Stimmen erheben, wenn sie irgendwo auf der Welt Ungerechtigkeit orten: doch die Feministinnen schwiegen, viele Lehrende und Künstler:innen drehten schweigend ihre Köpfe weg, und weder die Friedens- noch die Antirassismusbewegung fand zu ihrer Stimme angesichts der begangenen Bestialität.
Überraschend kam das Schweigen aber nicht, ebenso wenig wie die darauffolgenden und immer noch anhaltenden Hassausbrüche, denn der Boden dafür war seit vielen Jahren aufbereitet worden – politisch und gesellschaftlich. Und wir alle haben dabei zugeschaut, wie der als „Israelkritik“ getarnte Antisemitismus sich in den sozialen Medien virusartig ausbreitete und in den Köpfen festsetzte. Der Begriff „Israelkritik“ besitzt bereits ein fragwürdiges Alleinstellungsmerkmal, übt doch niemand von uns „Russlandkritik“, „Ungarnkritik“ oder gar „Nordkorea-Kritik“, obwohl es in diesen Fällen genug zu kritisieren gibt, nach meinem Geschmack.
Die geistige Brandstiftung erfolgt derzeit parallel aus mehreren Richtungen, das entfachte Feuer fühlt sich aber nicht anders an als in all den Jahrhunderten zuvor, es breitet sich über die virtuellen Kanäle viel effizienter in Raum und Zeit aus. Das antisemitische Ressentiment ist kein bloßes Vorurteil, kein Rassismus per se, und aufgrund seiner Komplexität sind Bildung und Aufklärung auch keine absoluten Garanten dagegen. das Ausmaß von Antisemitismus den Ist-Zustand einer Gesellschaft anzeigt.
»Sie attackierten Lesben und Schwule, und ich stand dagegen auf, sie attackierten die schwarze Gemeinschaft, und ich stand dagegen auf, sie attackierten die Migranten und ich stand dagegen auf. Dann attackierten sie mich, aber ich stand allein, weil ich jüdisch bin.«
nach dem Theologen Markus Niemöller*
In früheren Jahrhunderten glaubte man, der kollektive „böse Jude“ entführe Kinder, vergifte Brunnen und paktiere mit dem Teufel. Nun ist es der jüdische Staat selbst, der die Maske des Bösen trägt. Und das passende Bildmaterial wird von den Medien prompt beigesteuert. Wer überprüft schon dabei die Quellen auf ihren Wahrheitsgehalt, wer blättert schon in verstaubten Geschichtsbüchern oder schaut sich alte Landkarten an? Weder jene Künstler:innen, die sich mit der Kefiya auf roten Teppichen zieren, noch die Studenten, die hysterisch zum Massenmord an Juden aufrufen, hungern nach fundiertem historischen Wissen und geopolitischen Kenntnissen – vielmehr nach Gemeinschaftsgefühl, nach Antworten auf ihre Zukunftsängste und nach ein paar Sekunden Ruhm, um dabei die eigenen Sorgen für kurze Zeit zu vergessen.
Israel wird gehasst, weil es „der Jude“ unter den Staaten ist. Und diese gefährliche Gleichsetzung funktioniert. Wie auch die ungarischen Machthaber nur wenige Jahre gebraucht haben, um in den Köpfen der Menschen das Feindbild „Brüssel“ einzupflanzen. Mit überwältigendem Erfolg. Da hilft auch nicht, wenn eine kleine Oppositionspartei zu erklären versucht, dass „Brüssel“ nur eine Stadt sei. Und so ist Israel auch nur ein Staat unter vielen und wird seit seiner Gründung angefeindet. Einfach, weil er da ist – das zeigen auch Studien, auf die vor Kurzem die Antisemitismus-Forscherin Monika Schwarz-Friesel in ihrer mutigen Rede im österreichischen Parlament hingewiesen hat. In ihrer Stimme schwang die Verzweiflung der Wissenden mit. Zugleich drückte sie die Verzweiflung von Jüdinnen und Juden weltweit aus, die sich fragen, wie sie sich gegen die aufkeimende Aggression wehren sollen, während sie ihre tiefe Trauer zu bewältigen versuchen und eine tiefgreifende Retraumatisierung erleben. Denn die Traumaforschung hat im letzten Jahrzehnt bewiesen, wie tief und weitgreifend das Unbewältigte weiter zerstört, solange es immer wieder aufgerissen wird und nicht heilen kann.
Doch solange von internationalen Gerichten und Friedensinstitutionen die Opfer zu Täter:innen gemacht werden, die Gequälten blutige Beweise liefern müssen und in Hörsälen Propaganda zu Wissen erklärt wird, wird zum Heilen keine Zeit bleiben, und kein Raum.
Weltweit sind wir dazu gezwungen, die Sicherheit zu erhöhen, viele nehmen sichtbare jüdische Symbole wieder ab und verdecken ihre jüdische Identität im öffentlichen Raum. Und wir warnen erneut unsere Kinder, vorsichtig zu sein, statt gemeinsam und laut jene Wahrheit auszusprechen, die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller mit beneidenswerter Präzision festhielt: Nein, der Krieg begann nicht in Gaza. Der Krieg begann am 7. Oktober 2023 in Israel. Er brach in dem Moment aus, als seine Bevölkerung brutal angegriffen und grausam geschändet wurde. Und nein, Widerstand tötet, verbrennt und vergewaltigt nicht!
Fortgesetzt wird dieser Krieg auch dort, wo Gewaltverherrlichung sich als Meinungsfreiheit tarnt und Versammlungsfreiheit zur Ausgrenzung missbraucht wird: in der Mitte unserer Gesellschaft, auf unseren Straßen, in unseren Universitätsgebäuden und in den Köpfen unserer Mitmenschen.
Die Retraumatisierung seit dem 7. Oktober und die Erkenntnis der steten Einsamkeit werden unsere jüdische Existenz von nun an weiter prägen. Wir werden unsere Gefangenen zurückholen, unsere Toten verabschieden, unsere Verletzungen heilen, unsere Erfahrungen lehren und unsere Schlüsse ziehen. Das Geschehene hat jene Welt, in der das Nie wieder tatsächlich nie wieder heißt, in weite Ferne gerückt. Und es rückt mit jedem Tag, an dem weiterhin mit zweierlei Maß gemessen und Unwissen verbreitet wird, noch weiter in die Ferne.
* Quelle: https://www.welt.de/debatte/kommentare/article252143806/Israel-Hass-Bildung-ist-keine-Garantie-gegen-Antisemitismus.html