Ein Jahr ist ein Jahr ist ein Jahr. Aber manche Jahre, Tage, Ereignisse sind dann doch anders, sie gravieren sich für immer in unser Gedächtnis ein und dienen fortan als Ampeln und Wegweiser auf unserem Lebensweg. So auch das jüdische Jahr 5784, das wir bald verabschieden. Ein Jahr, in dem sich so vieles verändert hat. Wir werden uns vermutlich noch im hohen Alter daran erinnern, wo wir waren und mit wem, als wir die ersten Nachrichten vom Massaker in Israel am 7. Oktober 2023 erhielten.
Ein solcher Moment war für mich auch 1987, als das Telefon in unserem Vorzimmer plötzlich läutete und ich mich unter der Konsole, auf der das Telefon stand, versteckte und so laut ich konnte schrie: „Nein, nicht abheben!“ Doch meine Mutter hob ab – und der Tod meines Großvaters wurde Realität. Als ich am 7. Oktober die ersten Schlagzeilen las und mein Handy zu läuten begann, versteckte ich mich unter einem Holunderbusch im Garten und schrie wieder: „Nein, nicht abheben!“ Doch ich hob ab.
In der früheren Mauthausen-Ausstellung gab es ein Bild, auf dem ich als Schülerin glaubte, meinen bis auf die Knochen abgemagerten Opa zu erkennen. Ob er es wirklich war, habe ich nie erfahren, sehr wohl aber, dass er im Winter 1944 tatsächlich nach Mauthausen deportiert wurde und mit sehr viel Glück überlebte. Ab diesem Zeitpunkt wurden die Bilder, die wenigen Filmaufnahmen, Zeitzeugenberichte und Studien über die Bestialität des Holocaust zur jener Welt, in der ich mehr Zeit verbrachte als auf Partys, mit Freunden oder mit Zukunftsplanung. Die vielen Versuche großer Denker, auf die Frage zu antworten, wie all das möglich werden und wie Menschen trotzdem überleben konnten, wurden zu jenen Werkzeugen, mit denen ich versuchte, die Welt für mich zu interpretieren. Die Traumaforschung macht heute vieles von dem, was mich angetrieben und einiges von dem, was mich ausmacht, erklärbar.
Doch erst die Geschehnisse am 7. Oktober und die Tage, Wochen und Monate danach haben mich, und vermutlich sehr viele von uns, spüren lassen, was in unseren Genen tatsächlich steckt. Es war, als hätte ein Hebel die Grenzen zwischen Zeit und Raum aufgehoben, und die Nachrichten, Ton- und Videoaufnahmen sowie die Erzählungen von der unsäglichen Brutalität der Hamas-Terroristen haben sich mit den schwarz-weißen Bildern und Filmaufnahmen aus dem Holocaust verknüpft. Doch während sich die sadistischen Mörder und brutalen Verfolger nach 1945 zu verstecken versuchten, sind die Hamas-Terroristen wohl Kinder ihrer Zeit: Sie übertrugen das Morden live per Körperkameras und Telefon an Familie und Freunde. Schafft man es, diese Aufnahmen anzusehen, so erblickt man den antisemitischen Hass und die Brutalität so vieler Jahrhunderte in ihren Augen und Taten wieder.
Seitdem hat sich vieles verändert, und vieles wird nie wieder so sein, wie es am 6. Oktober 2023 noch war. Seither fragen wir uns kaum noch, wie es uns geht, haben deutlich weniger Social-Media-Freunde und umso mehr Bewachung unserer Synagogen, Gemeindezentren und Schulen. Wir haben verstanden, dass „Nie wieder!“ kein moralischer Imperativ und Antisemitismus kein Tabu mehr ist – und dass Antizionismus auch in der Mitte unserer Gesellschaft als Tugend und als Empathie für die Unterdrückten verstanden werden kann. Wir haben gelernt, dass Vergewaltigung, Verbrennung und Verschleppung im „richtigen“ Kontext erklärbar werden können. Und dass der alte und staubige Antisemitismus von rechts wohl nicht unser größtes Problem derzeit ist. Viel eher müssen wir jene fürchten, die sich jahrelang als unsere philosemitischen, liberalen und fortschrittlichen Freunde verstanden haben und daher wohl auf ihr Recht auf Opfer-Täter-Umkehr, Doppelstandards und ein bisschen Weltverschwörungstheorie bestehen. „Denn Israel hat ja … und die IDF sowieso …“, und die Mädchen auf dem Nova-Festival hatten ohnehin zu kurze Röcke an.
Wir sind im letzten Jahr bestimmt leiser und vorsichtiger geworden, wir hatten Albträume, und manche wurden zu unserer Realität. Die Existenz des Bösen ist vielen von uns erst in diesem Jahr so richtig bewusst geworden. Aber wir sind auch zusammengerückt und in unserer Identität und unserem Glauben gefestigt. Wir, in unseren Familien, im Freundeskreis, in unseren Gemeinden – wir in der Diaspora und wir in Israel. Und wir haben mit Abstand mehr darüber erfahren, wer unser Freund und wer unser Feind ist, als uns lieb war. Den wahren Freunden gilt unser Dank! Wir haben gelernt, dass wir Resilienz und Überlebenswillen geerbt haben: „Mir wëllen lebn un derlebn, schlechte Zeiten ariberlebn. Mir lebn ejbig! Mir sajnen do!“
Für das kommende Jahr wünsche ich Ihnen und uns allen Frieden, Heilung für Körper und Seele und die Heimkehr aller Gefangenen: Schana Towa!