Das Schöne und Positive an der bis zum 12. Oktober laufenden Ausstellung im Unteren Belvedere ist sicher, dass wieder einmal das Schlaglicht auf teils vergessene oder unterschätzte Künstlerinnen fällt. Im konkreten Fall sind es erfreulicherweise keine Frauen, die sich den männlichen Kollegen und Konkurrenten gegenüber beweisen wollen, oder gar versuchen, sich deren Stil als Derivat anzunähern. Auch deshalb ist der Titel der Schau RADIKAL! gut gewählt: Die Diversität der hier gezeigten Kunstgenres – Malerei, Skulptur, Druckgrafik, Zeichnung, Fotografie und Design – bringt die Vielfalt der Talente zum Ausdruck, aber auch den entschiedenen Willen dieser Frauen zum Aus- und Aufbruch, von der selbsterkämpften Emanzipation bis zum fluiden Gender.
Nach den Stationen im niederländischen Museum Arnhem und im Saarlandmuseum in Saarbrücken ist sie derzeit im Belvedere zu sehen: Hier muss auch das Negative erwähnt werden. Um die Moderne anders zu denken – nämlich vielstimmig, international, widersprüchlich –, werden von insgesamt 60 Künstlerinnen aus über 20 Ländern jeweils nur wenige Werke gezeigt. Man liest zwar bei der Beschreibung über schöpferische Vielseitigkeit und diverse Stilentwicklungen, aber zu sehen bekommt man kaum etwas. Daher empfiehlt es sich, jene Künstlerinnen- Namen zu notieren, über die man mehr wissen, von deren Schaffen man mehr sehen möchte.

Die Ausstellung thematisiert nicht nur das Werk dieser Künstlerinnen, sondern auch die Kontexte ihrer Marginalisierung: Viele von ihnen waren jüdischer Herkunft, litten unter Antisemitismus, politischer Verfolgung oder gingen ins Exil, weil ihre Kunst von den Nazis als „entartet“ verpönt, oft auch bösartig vernichtet wurde. Jede der hier vorgestellten Künstlerinnen ist eine Welt für sich, und viele laden dazu ein, sich mit ihnen näher zu beschäftigen. Ob es „Entdeckungen“ sind, muss jede und jeder für sich selbst entscheiden.
Es gibt einzelne Werke die sich radikal einprägen und sei es nur wegen ihrer Aussage „Nazis ermorden Juden“: Die US-Amerikanerin Alice Neel malte dieses Bild bereits 1936. Sie war von 1935 bis zu ihrem Tod 1984 Mitglied der Kommunistischen Partei.
Von Alice Neel sind zwei Arbeiten ausgestellt, doch von der polnischen Malerin Tamara de Lempicka (1898–1980), die dank ihrer modernen, selbstbewussten weibliche Perspektive als Ikone des Art déco weltberühmt wurde, nicht einmal eine: In einem bescheiden beleuchteten Schaukasten steht ein Katalog, in dem zwei Fotobeispiele von de Lempickas Malerei auszumachen sind. Schade, denn die Tochter wohlhabender jüdischer Eltern aus Warschau gilt als eine der erfolgreichsten Frauen der Kunstgeschichte. Ihre Bilder kombinieren kühle Sachlichkeit mit sinnlichem Ausdruck, ihre Technik näherte sich einem surrealistischen Stil an.
„Ich verbringe mein Leben am Rande der
Zivilisation und die Normen der normalen
Gesellschaft gelten nicht für Menschen,
die am Rande leben.“
Tamara de Lempicka
Nach der Oktoberrevolution 1917 floh Lempicka mit ihrem Ehemann, dem polnischen Anwalt Tadeusz Lempicki, von St. Petersburg, wo sie damals lebte, nach Paris. Hier stieg sie innerhalb kurzer Zeit zu einer der gefragtesten Künstlerinnen auf und – wie nur wenige Frauen in der Kunst – verdiente viel Geld. Sie inszenierte sich als Diva, hatte eine Reihe von Affären und ließ sich 1928 scheiden. Im Jahr 1934 lernte sie auf einer Seereise den ungarischen Industriellen Raoul Baron Kuffner de Diószegh (1886–1961) kennen. Gemeinsam mit Kuffner, der in Wien geboren wurde und aus einer geadelten jüdischen Familie stammte, floh die frisch Verheiratete in die USA, wo sie eine neue Heimat fand. Lempicka lebte in Los Angeles, New York und Houston, ehe sie endgültig nach Mexiko übersiedelte.
Eine ihrer größten Sammlerinnen ist Madonna, die fünf der bedeutendsten Gemälde von Lempicka besitzt, darunter Andromeda oder Die Sklavin, Nana Herrera und Frau mit Taube. Ein Musical und ein Film schildern ihr ereignisreiches Leben; in Wien kam 2020 ein Werk bei einer Auktion im Dorotheum unter den Hammer, und das Kunstforum widmete der Femme fatale im September 2024 eine Ausstellung.

Die Künstlerin Claude Cahun, von der drei Selbstporträts im Belvedere gezeigt werden, wurde 1894 als Lucy Renée Mathilde Schwob in Nantes, Frankreich, geboren und wuchs großteils bei ihrer Großmutter Mathilde Schwob in einer jüdischen Intellektuellenfamilie auf. 1907 wurde Lucy wegen der antisemitischen Stimmung, verstärkt durch die Revision des Dreyfus-Prozesses, für zwei Schuljahre an die Parson’s Mead School in Surrey (England) geschickt, dann kehrte sie nach Frankreich zurück.
Ab 1920 nannte sich Lucy Schwob endgültig Claude Cahun: Unter diesem Namen begann sie, in Zeitschriften Texte zu veröffentlichen und sich künstlerisch zu betätigen. Den Künstlerinnen-Namen sah sie als eine Hommage an ihren Großonkel David Léon Cahun, einen Schriftsteller und Orientalisten. Gemeinsam mit ihrer Stiefschwester und Lebensgefährtin Suzanne Malherbe betrieb sie 15 Jahre lang einen Künstlersalon in Paris.
Sie fotografierte, collagierte, spielte in surrealistischen Theaterstücken mit, schrieb und verkehrte im Kreis der Surrealisten um André Breton. In ihren Schriften und Fotografien wandte sie sich als Kommunistin gegen den Faschismus und focht zeitlebens für die Freiheit des Denkens und somit des Individuums. 1937 flüchteten Claude Cahun und Suzanne Malherbe vor den Nazis auf die Kanalinsel Jersey. Nach der Besetzung Jerseys durch die Wehrmacht engagierten sie sich weiterhin im antifaschistischen Widerstand und wurden schließlich 1944 zum Tode verurteilt.
1945 wurden beide begnadigt, doch während der zehnmonatigen Haft hatte die Gestapo ihr Landhaus geplündert und einen großen Teil ihrer Werke zerstört. Von ihren zahlreichen Selbstporträts veröffentlichte sie nur wenige, andere gingen in Fotomontagen, Collagen und fotografische Tableaux ein. Ihr fotografisches Werk geriet nach ihrem Tod 1954 vorerst in Vergessenheit – heute weiß man, dass Claude Cahun in Hinblick auf die von ihr angewandten Techniken und ihre emanzipierten Positionen ihrer Zeit weit voraus war.
Die Berlinerin Jeanne Mammen (1890– 1976) war Malerin, Zeichnerin und Übersetzerin der Moderne. Ihre Arbeiten entstanden im Kontext der veristischen Kunstrichtung. Von 1901 bis 1915 lebte die Familie in Paris, wo Jeanne das Lycée Molière besuchte und anschließend in Brüssel und Rom Kunst studierte. Mit ihren künstlerischen Milieuschilderungen aus den Cafés, Clubs, Tanz- und Travestie- Etablissements, den Kneipen und Straßen von Berlin avancierte sie zu einer der renommiertesten Bildberichterstatterinnen der 1920er-Jahre.
„Männlich? Weiblich?
Das hängt von der Situation ab.
Neutrum ist das einzige Geschlecht,
das immer zu mir passt.“
Claude Cahun
Ihre erste Einzelausstellung fand 1930 in der Berliner Galerie Gurlitt statt. Kurz vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten reiste Mammen nach Moskau, da sie sich für den Sozialismus begeisterte. Mit der Machtergreifung der Nazis gehörte sie in Berlin zu den „Entarteten“, und es wurde nichts mehr von ihr veröffentlicht. Erst zwischen 1960 und 1970 wurde sie wiederentdeckt und u. a. in der Akademie der Künste in Berlin ausgestellt.
Innovativ, technisch versiert. Zur „entarteten“ Künstlerin wurde auch die deutsche Dadaistin Hannah Höch (1889–1978) gestempelt, von der drei Arbeiten zu sehen sind. Ab 1938 war sie monatelang im nationalsozialistischen Deutschland und in den besetzten Niederlanden unterwegs: Stationen und Erlebnisse während ihrer Autofahrten hat sie in Terminkalendern stichwortartig festgehalten und so das Novemberpogrome 1938 und den deutschen Überfall auf Polen dokumentiert. Als nach 1945 wieder avantgardistische Kunst gezeigt werden konnte, war Höch 1946 mit zehn Werken bei der Fantasten-Ausstellung des Berliner jüdischen Galeristen Gerd Rosen vertreten.
Die in Wien geborene Lili Réthi (1894– 1969) gilt als bedeutende Chronistin des technischen Fortschritts im 20. Jahrhundert. Sie illustrierte Kohlebergwerke, Fabriken, Werften und Industriegebäude. Ihr Interesse galt jedoch nicht nur der Darstellung technischer Innovation: Ebenso gelang es der Künstlerin, die harte Lebensrealität von Arbeiterinnen an ihren Werkbänken festzuhalten.
„Ich male meine Zeit
und verwende die Menschen als Evidenz.“
Alice Neel
Lili Réthi verließ Europa in Richtung Amerika, um einem Auftrag Hermann Görings zu entgehen, bei dem sie das „Dritte Reich“ hätte glorifizieren müssen.
Genauso technisch talentiert war Marcelle Cahn (1896–1965), die erste französische Ingenieurin, die die Montan-Hochschule in Saint-Étienne absolvierte. Ihr jüdischer Vater Abraham Schrameck war Innenminister der Dritten Republik Frankreichs, die Mutter Odile Bernheim aus der jüdischen Hautevolee. 1922 heiratete Marcelle Schrameck Louis Kahn, einen Marineingenieur, der zum ersten jüdischen Admiral Frankreichs aufstieg. Die Zeremonie fand in der Synagogue de la Victoire in Paris statt. Als Ingenieurin schuf sie klare geometrische Formen und hatte eine limitierte Farbpalette: „Das Werk entsteht nicht aus dem Zufall, es kommt von weit her – es sucht, das Unerreichbare auszudrücken“, so Cahn.
Fast unerreichbar schien auch die Rettung der Familie aus Frankreich. Louis Kahn wurde aus der Marine entlassen und floh allein nach London, später nach Algiers. Marcelle ging mit ihren beiden Söhnen, 15 und zehn Jahre alt, zuerst in die Zone libre nach Marseille. Als dort die Deportation von 40.000 Menschen begann, floh sie mit ihren Kindern zuerst nach Grenoble und versuchte von dort die Pyrenäen zu überqueren. Da keiner der Schmuggler die Kinder nehmen wollte, schaffte Marcelle es mit einem Pfadfinder- Kompass und einer Landkarte im Oktober 1943 ganz allein. Es dauerte noch schlimme zehn Tage, bis die drei über Marokko und Barcelona in das sichere Casablanca gelangten.
Einer beeindruckenden Künstlerin aus Wien, die die Shoah nicht überlebte, begegnet man auch in der Belvedere-Schau: Friedl Dicker-Brandeis (1898–1944). Die Bauhaus-Studentin von Paul Klee und Wassily Kandinsky arbeitete als Innenarchitektin, Malerin, Grafikerin und Kunstpädagogin. Selbst während ihrer zweijährigen Internierung im Ghetto Theresienstadt, die ihrer Ermordung im Vernichtungslager Auschwitz voranging, betreute sie Kinder kunstpädagogisch.
Noch bis 12. Oktober kann man sich im Belvedere aus dem „Adressbuch“ der Künstlerinnen eine Favoritin aussuchen.
Die Schreibweise Künstlerinnen* betont die Vielfalt der in der Ausstellung vertretenen Identitäten.























