„Ein dichter und reicher Text“

Mit ihren immer wieder ungewöhnlichen und aufrüttelnden Theaterprojekten haben sich die 2011 gegründeten makemake produktionen in das Zentrum der freien Wiener Theaterlandschaft gespielt. 2018 erhielt die Gruppe für ihre Interpretation von Muttersprache Mameloschn der deutschen Dramatikerin Sasha Marianna Salzman den Nestroy Theaterpreis, 2020 folgte erneut eine Nestroy-Nominierung für Das große Heft nach Ágota Kristóf und die Auswahl in die Shortlist des renommierten Berliner Theatertreffens. Nun präsentiert die Gruppe nach monatelanger Corona-Zwangspause in Zusammenarbeit mit dem Theater Nestroyhof/Hamakom, dem Odeon und dem Milieu-Kino ihre Version einer neuen Lesart von Ruth Klügers 1992 erschienenen Schoah-Erinnerungen weiter leben. WINA sprach mit Co-Regisseurin Kathrin Herm und Dramaturgin Anita Buchart über das neue Konzept und den herausfordernden Produktionsprozess.

1996
„Emma Wiederhold ist heute so alt wie Ruth Klüger zu dem Zeitpunkt, als sie nach Auschwitz kam.“ ©ApolloniaTheresaBitzan
TIPP 1

weiter leben.
Begehbare Videoinstallation nach Ruth Klüger
Eröffnung: 3. Mai 2021
makekmake produktionen; Regie: Sara Ostertag,
Kathrin Herm; Musik: Martin Hemmer; Video: Alex Lazarov;
mit: Alireza Daryanavard, Martin Hemmer, Anne Wiederhold, Emma Wiederhold
Startpunkt: Theater Nestroyhof/Hamakom, Nestroyplatz 1, 1020 Wien;

Wina: Ihr befasst euch in eurer aktuellen begehbaren Videoinstallation mit Ruth Klügers autobiografischem Text weiter leben. Was sind die Ausgangspunkte für eure Lesart, wo liegt der Fokus eures künstlerischen Zugangs?
Anita Buchart: Für uns war von Anfang an wichtig mitzudenken, dass Ruth Klüger, als sie, relativ spät, das Buch schrieb, bereits in mehrfacher Hinsicht unterschiedliche Diskurse der Zeit mit einbezogen hat. Zum Beispiel die Frage, wer wann wie und was erinnern „darf“ – was auch daran lag, dass man ihr teilweise abgesprochen hat, dass sie sich überhaupt erinnern kann, weil sie so jung gewesen war. Aber auch feministische und sprachwissenschaftliche Diskurse. Und auch die Problematik des eigenen Zugangs, den sie nicht zuletzt ebenfalls immer mit in den Fokus nimmt.
Kathrin Herm: Sie ist eine kritische und eben auch eine selbstkritische Autorin und Denkerin, die sich in ihrem Schreiben immer wieder zwischen einem sehr genauen Weltbeschreiben und dann wieder einem sehr analytischen Verstehen-Wollen, wie die zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge funktionieren, warum sie geworden ist, wer sie geworden ist, bewegt.
Da ist ein großer Drang hinter all dem, die Welt zu begreifen und für sich etwas herausziehen zu wollen. Aber auch der Wunsch – und sie richtet die erste erschienene Fassung ja an alle deutschsprachigen Leser*innen –, aus all dem, was passiert ist, auch etwas mitzunehmen. Also nicht aus der Idee heraus, das Erlebte für sich einmal „aufzuarbeiten“ und dann sein zu lassen, sondern in einem fortdauernden kritischen Diskurs zu belassen, in dem Geschichte und Gegenwart immer zugleich und gleichzeitig mitgedacht werden. Und das finde ich ein sehr theatrales Prinzip.
AB: Eine universale, kontextunabhängige, abgeschlossene Deutung historischer Ereignisse existiert nicht. Wir blicken von hier und jetzt auf den Text.

Ihr hattet die Produktion ursprünglich als Live-Parcours geplant und musstet in den letzten Monaten das Format covidbedingt vollkommen verändern. Wie sieht das aktuelle Konzept aus?
KH: Ruth Klüger kam aus Wien, und so war es für uns ein Anliegen, den Text auch an mehreren Schauplätzen direkt in der Stadt zu verorten. Für uns war es dann rasch naheliegend, dass wir in einem Bezirk spielen wollen, in dem das jüdische Leben einst und
auch heute am stärksten die Stadt mit prägt. Ruth Klüger sprach aber auch selbst davon, dass sie ihren „Roman“ – sie selbst nannte das Buch ja so – in „Stationen“ einteilen wollte, da ihr eigenes Leben durch Orte, eben „Stationen“, die sie durchwandert hat, geprägt war.
AB: Ursprünglich war geplant, weiter leben Mitte November letzten Jahres als Stationentheater zur Aufführung zu bringen. Da seitdem aber durchgängig ein
Aufführungsverbot herrscht und unklar ist, wie lang diese Situation weiter andauern wird, haben wir uns entschieden, die einzelnen Theaterszenen aufzunehmen und das Projekt in eine begehbare Installation zu verwandeln. So können wir die Arbeit Anfang Mai
präsentieren und unsere Idee aufrechterhalten, die Geschichte von Ruth Klüger, die ja so viele Wiener Jüd*innen auf ihre Weise mit ihr teilen, in der Stadt sichtbar zu machen.
KH: Auf besondere Art und Weise passt das Medium Video ja auch sehr gut. Ruth Klüger schreibt an einer Stelle, dass sie zwar nicht an G-tt, an Gespenster aber schon glaube und dass man lernen müsse, mit ihnen umzugehen. Das Motiv der Gespenster war daher
von Anfang an sehr wichtig für uns. Jetzt haben wir mit dem neuen Medium die Möglichkeit, besonders zu betonen, dass an den Orten, an denen wir uns heute und hier befinden, auch noch die Geschichten von Menschen herumgeistern, die vor vielen Jahrzehnten am selben Ort gelebt haben. Auch wenn es natürlich sehr schade ist, dass die Live-Begegnung zwischen Darsteller*innen und Publikum nicht stattfinden kann, so kann doch eine besondere, eine „verrückte“ Begegnung passieren.

Es war uns von Anfang an wichtig, thematisch auf den Text zuzugreifen
und nicht nur biografisch.

Kathrin Herm

makemake produktionen arbeiten im Kollektiv und sehr intensiv im gemeinsamen Austausch. Neu ist hier vor allem die Zusammenarbeit mit der Regisseurin Kathrin Herm. Könnt ihr ein wenig darüber berichten, wie diese konkret ausgesehen hat?
AB: Die erste Phase bestand darin, dass die zweite Regisseurin, Sara Ostertag, Kathrin und ich einander alle zwei Wochen getroffen haben, um das Stück gemeinsam zu besprechen und uns gegenseitig Arbeits- und Rechercheaufträge zu erteilen, deren Ergebnisse wir dann wiederum bei der nächsten Arbeitssitzung besprochen haben.
KH: Jede von uns hat vorerst eine bestimmte Station bearbeitet, wobei wir ja immer sowohl Text wie Raum mit in unsere Konzeption aufgenommen haben.
Es hat sich als sehr wertvoll erwiesen, dass wir schon von Beginn an die ganz speziellen Charakteristiken der Räume in unsere Arbeit mit aufgenommen haben.

TIPP 2

Ruth Klüger erinnern
Ein Gespräch mit: Eva Geber, Herbert Ohrlinger,
Doron Rabinovici, Renata Schmidtkunz und Daniela Strigl;
Moderation: Sabine Kock
Stream am 6. Mai 2021 auf hamakom.at 

makemake.at

Wie kann man sich die Stationen konkret vorstellen?
AB: Die erste Station, um nur ein Beispiel zu nennen, schildert die Zeit unmittelbar nach Ruth Klügers Flucht vom Todesmarsch und eröffnet den Diskurs über zentrale Motive wie die Notwendigkeit des Erinnerns und die Fragilität der Freiheit.

Ihr arbeitet bei diesem Projekt mit vier sehr eindrücklichen und sehr unterschiedlichen Darsteller*innen zusammen – der Schauspielerin und langjährigen Leiterin der Brunnenpassage Wien Anne Wiederhold, ihrer Tochter Emma Wiederhold, dem Schauspieler und Musiker Martin Hemmer und dem aus dem Iran kommenden Performer und Regisseur Alireza Daryanavard. Wie kam es zu dieser Besetzung?
AB: Emma Wiederhold ist heute so alt wie Ruth Klüger, als sie nach Auschwitz kam. Das war für uns ein wichtiger Punkt; und in einer Szene spielen Anne und Emma dann auch Mutter und Tochter – aber zum Teil auch in verkehrten Rollen, was einen ganz neuen Blickwinkel eröffnet. Mit Martin Hemmer arbeiten wir bereits zum wiederholten Male zusammen, und er hat vor allem auch die gesamte Musik für dieses Projekt komponiert. Sie spielt eine wichtige Rolle. So spielen etwa Anne und Emma, die beide hochmusikalisch sind, in ihrer gemeinsamen Szene verschiedene Instrumente. Hier war der offene Probenprozess besonders spannend, da alles, was wir uns theoretisch ausgedacht hatten, dann an den Orten und auch mit der konkreten Musik noch einmal untersucht werden konnte. Fragen waren dann zum Beispiel, wer wo welches Instrument spielt und welcher Klangkosmos sich daraus vor Ort ergibt. Das heißt, es war uns eigentlich in allen Aspekten wichtig, was die Darsteller*innen selbst in die Arbeit mitbringen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zu sagen, dass keine*r von ihnen je eine konkrete Rolle oder gar Ruth Klüger selbst durch das ganze Stück hindurch spielt; vielmehr sind alle an der einen oder anderen Stelle Ruth Klüger, oder auch andere Figuren, geht es doch gerade auch um diese Vielzahl an Stimmen und Perspektiven, so wie auch Ruth Klüger in ihrem Buch ja immer wieder neue Stimmen mit hineinnimmt, etwa Bekannte in Amerika oder eben auch die eigene Mutter.
Wenn Alireza Ruth Klüger spricht, bringt er eine Aktualität in den Raum, die, ganz nach Klüger, nicht gleichstellen, aber einen Schnittpunkt zeigen soll.

weiter leben: eine hochmusikalische Theaterinstallation der Wiener freien Gruppe makemakeproduktionen.. ©ApolloniaTheresaBitzan

Habt ihr im Zuge eurer Recherchen noch mit Ruth Klüger Kontakt aufnehmen und euch mit ihr austauschen können?
AB: Anne Wiederhold hat schon 2013 am Dschungel Wien in einer Inszenierung von weiter leben gespielt, sodass es bereits einen direkten Kontakt gab. Und Ruth Klüger hat tatsächlich den Wunsch geäußert, dass der Roman noch einmal auf eine andere Art auf die Bühne kommt. Sie kannte unser Konzept von Anfang an und konnte sogar noch die letzte Fassung einsehen.

[…] geht es doch gerade auch um diese Vielzahl an Stimmen und Perspektiven, so wie auch Ruth Klüger in ihrem Buch ja immer wieder neue Stimmen mit hineinnimmt.
Anita Buchart

Ihr habt zuerst mit der deutschen Fassung, im Laufe der Recherchen dann auch mit der englischen Fassung gearbeitet, die erst knapp ein Jahrzehnt später und nicht ganz zufällig im Verlag The Feminist Press erschien: Still Alive: A Holocaust Girlhood Remembered.
AB: Das Buch wurde Anfang der 1990er-Jahre geschrieben und hat dafür eine sehr feministische Perspektive, die sich dann auch in der englischen Fassung wiederfindet. Dies hat sicher damit zu tun, dass sich Ruth Klüger den Raum der Erzählerin erst nehmen musste. Leider hat es auch in dieser Hinsicht wenig an Aktualität eingebüßt.

Wie sehr unterscheiden sich die beiden Texte?
AB: Das war ebenfalls ein sehr spannender Aspekt für uns, dass das Buch so lange Zeit nicht auf Englisch erschienen ist, obwohl doch zum Beispiel ihre Söhne in Amerika geboren wurden und dort auch leben.
KH: Dieses ganze Thema der englischen Übersetzung hat uns dann im Laufe des Probenprozesses nochmal auf merkwürdige Art eingeholt, als wir genau an
diesem Punkt der Auseinandersetzung mit der Sprache und ihren Söhnen waren und auch überlegt haben, die Auswanderungsszene zweisprachig zu gestalten.
AB: Wir dachten nämlich lange Zeit, dass es schlichtweg derselbe Text, nur eben auf Englisch, sei. Doch dann haben wir entdeckt, dass es im Grunde ein ganz anderes Buch ist, das natürlich viele parallele Teile hat, sich aber explizit auf den englischsprachigen Diskurs zum Holocaust bezieht. Allein daran sieht man, wie reflektiert Klüger stets in ihrer Arbeit war, wenn es darum ging, diese in einen konkreten Diskursrahmen zu setzen und diesen Schritt eben auch, wie eingangs schon erläutert, immer mit zu reflektieren.
KH: Und so haben wir immer wieder nach einer Passage gesucht, die dann einfach nicht da war. Und dann ging es uns am Ende bei fast der Hälfte der Texte so! Man könnte aber auch sagen, dass es die beste Übersetzung ist, die man von diesem Buch machen kann.

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