Ein Jahr danach

Obwohl ein Jahr nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 nichts mehr in Israel so ist, wie es davor war, können hier selbst noch die surrealsten Bilder und Szenarien zur bitteren Realität werden.

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Yonathan Shamritz bei der Gedenkveranstaltung am 07. 10. 2024. Sein Bruder Alon, sel. A., wurde bei der Flucht aus der Hamas-Gefangenschaft von Soldaten der IDF versehentlich erschossen. Foto: Videostill aus Bereaved Families’ Memorial Ceremony 7.10.

„Wir sind die Generation, die sich aus den Ruinen erheben wird, die Folgen des Holocausts und dieses Infernos hinter sich lassen wird und eine neue zionistische Vision erfüllen wird.“
youtube.com/watch?v=HH3NNGNiXsI.


 

Eigentlich ist es gar nicht zu fassen. Wir sind im Oktober 2024, ein Jahr danach, und noch immer warten die Geiseln in Gaza. Sofern sie noch leben, siechen sie wohl langsam dahin. Wie man das aushalten kann, wie man überhaupt durch den Tag kommt, fragte ich eine Angehörige, die mit mir zufällig in derselben Maschine auf dem Rückflug nach Israel saß. Ihre Antwort kam prompt: Man versuche dauernd, etwas zu tun, das die Befreiung näher bringen könnte. Man dürfe vor allem die Hoffnung nicht aufgeben.

Ein Jahr danach ist der Himmel immer noch voller Raketen, auch wenn sich der Schwerpunkt fast ganz in den Norden verlagert hat. Inzwischen hat auch der Iran schon zum zweiten Mal direkt angegriffen. Was im April noch ein ziemlich surrealistisches Szenario war, das zur Realität wurde, ist jetzt irgendwie schon mit in die aktuellen Lebensumstände integriert geworden. Dennoch war es ein bisschen anders. Die App auf dem Handy hatte „extremen Alarm“ angekündigt, außerdem sollten wir nach Anweisung des Heimatschutzes erst nach ausdrücklicher Entwarnung den Bunker verlassen. Unsere drei Nachbarinnen, vor einem Jahr waren sie alle hochschwanger, trugen ihre kleinen Babys noch sorgfältiger als sonst in den Kellerbunker. Meine erwachsene Tochter befand sich zu diesem Zeitpunkt gerade in einem fahrenden Zug; erst als er auf offener Strecke anhielt und die Passagiere sich in Sicherheit bringen konnten, wurde ich wieder ein bisschen ruhiger im Bunker.

Allen, die in der Ferne gerne denken, das israelische Abwehrsystem sei ja nahezu hermetisch, möchte man in Erinnerung rufen, dass ein dichtes Raketenbündel ausreicht, um da durchzubrechen. Es kann aber auch passieren, dass sich eine Drohne unbemerkt den Weg bahnt, so wie bei dem Angriff am 13.Oktober auf einen Militärstützpunkt bei Binjamina. Vier Soldaten waren auf der Stelle tot.

„Wir werden nicht ruhen, bis wir die Dinge in
Ordnung gebracht haben,
[…] bis wir wieder
aufgebaut haben.“
Yonathan Shamritz

 

Ein Jahr danach fallen weiterhin junge Israelis auf dem Schlachtfeld, inzwischen vor allem bei der Bodenoffensive im Libanon. Auch wenn die Sicherheitsexperten vorher wussten, dass die Hisbollah ihre Waffen sorgfältig und direkt an der Grenze gestapelt hat, waren sie dann doch vom Ausmaß des Arsenals überrascht. Journalisten berichteten gerade aus dem Dickicht nur Hundert Meter entfernt von der Grenze, wo es tiefe Tunnelschächte gibt und unzählige Unterstände mit Uniformen und Waffen. In den Häusern waren Waffenlager für das geplante Massaker angelegt, man wäre der Hamas um nichts nachgestanden, wäre es zur Ausführung der Pläne gekommen.

Ein Jahr danach gibt es nur selten klare „Erfolge“. Zu ihnen zählt zweifellos der koordinierte Pager-Angriff auf Mitglieder der Hisbollah. Die Besitzer der Pager bildeten ein Netzwerk aus hochrangigen Befehlshabern, Aktivisten, Kämpfern und Angehörigen der Elitetruppe Radwan. Als ihre Geräte explodierten, wurden mehr als zwölf Menschen getötet, über 3.000 verletzt. Ihre Zugehörigkeit wird sich künftig an ihren Narben erkennen lassen. Zu den Verwundeten gehört auch der iranische Botschafter, der sich in der Nähe eines Pagers befand, vielleicht aber besaß er ja auch selbst so ein Gerät. Tags darauf explodierten dann auch noch die Walkie-Talkies und Hisbollah-Chef Nasrallah redete von einem „schweren Schlag“. Ein bisschen später traf es ihn selbst. Die israelischen Raketen schafften es, seinen Bunker in Beirut zu durchbohren.

Ein Jahr danach fallen weiterhin junge Israelis
auf dem Schlachtfeld, inzwischen vor
allem
bei der Bodenoffensive im Libanon.

 

Die Pager-Operation war eine Art Rehabilitation des guten Rufs der eigenen Geheimdienste, die – nach dem kolossalen Versagen vom 7. Oktober – ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten erneut unter Beweis gestellt hatten. Es war gelungen, bis zum innersten Kreis der Kommandostruktur des Feindes vorzudringen. Bei der Hisbollah sitzt die Verunsicherung tief. Sie muss sich seither fragen, ob nicht noch andere Netzwerke infiltriert sind und ob demnächst nicht vielleicht auch elektrische Zigaretten explodieren könnten.

In der Zwischenzeit aber schafft sie es dennoch, weiterhin Raketen abzufeuern. Oder Drohnen loszuschicken. Der Alarm ist weiterhin unser ständiger Begleiter, von der Nordgrenze bis hin ins Zentrum des Landes, ab und zu auch im Süden. Für viele Kinder war das Schuljahr bereits verloren, bevor es beginnen konnte. Ein Trost ist allein, dass bereits zu Corona-Zeiten der Unterricht via Zoom eingeübt wurde. Sicherlich sind die Hamas und die Hisbollah mittlerweile geschwächt. Doch auch ein Jahr danach ist immer noch nicht klar, wie solche militärischen Errungenschaften in langfristige sicherheitspolitische Erfolge münden könnten. Die Regierung und besonders deren Chef halten sich da bedeckt.

Ein Jahr danach ist die Gesellschaft, die zunächst zusammengestanden hat, wieder gespalten. So gab es am 7. Oktober zwei parallele Gedenkveranstaltungen. Zum einen die im Vorfeld aufgenommene Zeremonie der Regierung, in der viele Opfer auf Wunsch ihrer Angehörigen nicht genannt werden durften, und zum anderen das sehr würdige und verbindende Gedenken der Familien, die an diesem Tag den Terroristen der Hamas ausgeliefert waren. Bei dieser sehr würdigen Veranstaltung gab es viele Zeugenberichte, auch von Minderjährigen, und alle Künstler mit Rang und Namen traten hier auf. Am Ende warf Yonathan Shamritz, Bruder der von der Armee versehentlich erschossenen Geisel Alon Shamritz, einen Blick in die Zukunft. „Wir werden nicht ruhen, bis wir die Dinge in Ordnung gebracht haben, […] bis wir wieder aufgebaut haben“, versprach er. Jene Generation, die auftauchen werde aus den Trümmern, aus der Shoah, dem Inferno, werde den Zionismus verwirklichen.

Bloß wann das sein wird, das blieb offen.

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