Ein Politiker nicht nur mit Haltung

Autorin Margaretha Kopeinig präsentiert eine Biografie des ehemaligen Bundeskanzlers Franz Vranitzky mit allen Facetten seiner aufrechten Persönlichkeit.

1990
© Sebastian Reich / picturedesk.com; Jeff Mangione

Nostalgische Sehnsucht gepaart mit großem Staunen über so schnell verblasste Erinnerungen erfassen einen, wenn man im Oktober 2021 inmitten der innenpolitischen Turbulenzen das Buchporträt über die Person und die Kanzlerschaft von Franz Vranitzky aus der Feder von Margaretha Kopeinig liest. Die Sehnsucht ist schnell erklärt: Mit charakterlich einwandfreier Haltung in innen- wie außenpolitischen Belangen, kühl temperierter Sachlichkeit, Anstand und Stil zugleich gelang es dem Hernalser Arbeiterkind sowohl in der SPÖ wie auch in der Republik einen neuen Kurs einzuschlagen. Eines seiner größten Verdienste: Als Staatsmann führte er Österreich mit der ÖVP zum EU-Beitritt 1995.

Aber schon in den Jahren 1986/87, als er die außenpolitische Isolation Österreichs im Zuge der „Waldheim-Affäre“ durchbrach und das Verhältnis sowohl zu den USA wie auch zu Israel wesentlich verbesserte, das seinen Botschafter nach der Wahl Waldheims abgezogen hatte, war der gelernte Banker zu seiner Hochform aufgelaufen. Mit seinem historischen Bekenntnis zu Österreichs Mitschuld an der Shoah 1991 vor der Knesset in Jerusalem begrub Vranitzky als erster österreichischer Politiker offiziell die „Opferthese“ und leitete damit ein neues Kapitel in den bis dahin schwierigen Beziehungen zwischen Israel und Österreich ein. Auch die jüdischen Gemeinden Österreichs atmeten damals erleichtert auf.

 

„Ich habe die Sozialdemokratie immer als ein Bollwerk gegen den Nationalsozialismus empfunden, daher habe ich für mich die Sozialdemokratie als Antithese zum Nationalsozialismus aufgebaut.“
Franz Vranitzky

 

Das „andere Österreich“. Margaretha Kopeinig lässt mit ihrer faktenreichen und gut lesbaren Biografie nicht nur die Herkunft, Ausbildung und Persönlichkeit Franz Vranitzkys Revue passieren, sondern erinnert an vieles, das dieser „Kanzler im Nadelstreif“, mit dem gar nicht wenige Genossen lange fremdelten, schon vorgedacht, aber auch im politischen Alltag bewältigt hat. Er wurde nämlich 1986 auch über Nacht Kanzler von Rot-Blau, als SPÖ-Chef Fred Sinowatz infolge der Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten zurücktrat. Als Jörg Haider durch einen Putsch in der FPÖ an die Macht kam, beendete er die Koalition. Nach der bitter geführten Auseinandersetzung um Waldheim waren SPÖ und ÖVP böse verfeindet, das Land in schwerer Krise, die Verstaatlichte pleite und einige SPÖ-Minister bald in wilde Skandale verwickelt – Lucona und Noricum. Bei Vranitzkys erster Auslandsreise, die ihn im Mai 1987 nach Amsterdam führte, war die Verfasserin dieser Zeilen als Journalistin dabei.

Margaretha Kopeinig hat unter anderem auch Monografien über Martin Schulz und Jean-Claude Juncker herausgebracht. © Sebastian Reich / picturedesk.com; Jeff Mangione

Mit freundlicher Miene und bewundernswerter Contenance repräsentierte er Österreich in den Niederlanden, ohne den geächteten und von den USA knapp davor auf die Watchlist gesetzten Bundespräsidenten irgendwie zu desavouieren. Er verkörperte das Bild des „anderen“ Österreich, aber im Ausland vertrat er das ganze Land mit Bravour und Größe.

Die gebürtige Kärntner Autorin Kopeinig, die in Wien Soziologie, Politikwissenschaft und Geschichte studierte und danach promovierte, schloss noch ein Post-graduate-Studium an der Universidad de los Andes in Bogotá, Kolumbien, an. „Mein erstes Interview mit Franz Vranitzky habe ich als Redakteurin der Arbeiter-Zeitung am 24. November 1990 geführt. Der Titel dieses Interviews lautete „Umwelt kann nicht warten – das Thema ist aktueller denn je“, schreibt Kopeinig. Der Bundeskanzler legte damals eine Umweltcharta vor, die zu internationalem Handeln zwingen sollte. Sein Fazit im Jahr 1990: „Politiker haben nicht mehr die Zeit abzuwarten.“ Kann sich irgendjemand daran erinnern, wie visionär dieser Kanzler war? Seine Partei heute offensichtlich nicht.

 

„Die Politik ist eine Berufung und ein Beruf zugleich.
Für diesen Beruf braucht man seine ganze Persönlichkeit,
sein ganzes Sein und sein ganzes Ich.
Sonst funktioniert es nicht. […]
Dieser Gedanke ist mir immer wichtig gewesen.“

Franz Vranitzky

 

Doch die langjährige Brüssel-Korrespondentin und spätere Leiterin des Europaressorts beim Kurier in Wien erinnert in ihrem neuen Buch noch an ein weiteres hochbrisantes Ereignis, das durchaus Parallelen zum Heute aufweist: „Die SPÖ konnte die Vorwürfe, sie würde hinter den Enthüllungen über Waldheims Vergangenheit stehen und über Mittelsmänner Informationen und Unterlagen an den World Jewish Congress und an die New York Times weitergegeben haben, nicht überzeugend entkräften“, schreibt Kopeinig. Bis heute seien sich Historiker über die Hintergründe der Enthüllungen im Unklaren.

Margaretha Kopeinig: Franz Vranitzky. Politik mit Haltung.
Czernin Verlag 2021,272 S., € 25

Weitreichende Konsequenzen. Franz Vranitzky ging in den zahlreichen Gesprächen mit Kopeinig, die unter anderem Monografien über Martin Schulz und Jean-Claude Juncker herausgebracht hat, davon aus, „dass Bundeskanzler Sinowatz keine parteiinterne Anordnung getroffen hat, die Wehrmachtsvergangenheit Kurt Waldheims zu einem Thema im Wahlkampf 1986 zu machen“, zitiert die Autorin aus Vranitzkys eigenen Memoiren Politische Erinnerungen. „Trotzdem wurde sie das, sowohl aus Eigendynamik wie auch deshalb, weil sich sozialdemokratische Funktionäre ihrer bedienten“, fügt Vranitzky hinzu. „Er war und ist von der Unschuld seines Vorgängers Sinowatz überzeugt“, resümiert Kopeinig im Herbst 2020. Für Fred Sinowatz hatte die Affäre Waldheim weitreichende politische und persönliche Konsequenzen: Am 9. Juni 1986, einen Tag nach dem Wahlsieg Waldheims, trat er als Regierungschef der rotblauen Koalition zurück: „Das Amt legte er in die Hände seines Vertrauten Franz Vranitzky“, heißt es bei Kopeinig in Politik mit Haltung (Czernin Verlag).

Jahre später wurde Fred Sinowatz wegen Falschaussage rechtskräftig verurteilt, weil er geleugnet hatte, im Oktober 1985 vor dem burgenländischen SPÖ-Parteivorstand Enthüllungen über Waldheims „braune Vergangenheit“ angekündigt zu haben. Das Gericht sprach Sinowatz schuldig, obwohl er „nur“ vor einem parteiinternen Gremium der Falschaussage überführt wurde – und nicht vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss.

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