Ein reiches Künstlerleben in den Mühlen der Geschichte

Wieder einmal wurde eine vielfach talentierte Frau unterschätzt, weil ihr Mann bekannter war: Berthold Viertel, der österreichische Schriftsteller und Regisseur. Für die Korrektur empfiehlt sich die Autobiografie Das unbelehrbare Herz von Salka Viertel.

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Salka Viertel: Das unbelehrbare Herz. Erinnerungen an ein Leben mit Künstlern des 20. Jahrhunderts. Die Andere Bibliothek, 512 S., € 22

Es geschah beiläufig und war doch ein Glücksfall: Sona MacDonald, Schauspielerin und Sängerin, empfahl mir bei einem abendlichen Gespräch die Lektüre von Das unbelehrbare Herz, die Autobiografie von Salka Viertel. Diese war mir weder als Schauspielerin noch als Drehbuchautorin ein Begriff – ich wusste nur von ihrem berühmten Ehemann und Lebensmenschen Berthold Viertel (1885–1953) als Literat und Theaterregisseur am Wiener Burgtheater.
Salka Viertel erging es nicht besser als vielen ihrer schöpferischen Zeitgenossinnen: Veza Canetti, Erika Mann, Marta Feuchtwanger u. v. a. konnten ihre eigene künstlerische Kreativität im Schatten der erfolgreichen Männer nicht gebührend zur Geltung bringen. Auch wenn die Männer nicht immer riesige Schatten warfen – sie reichten jedenfalls aus, um den meisten dieser Frauen das Strahlen im Rampenlicht zu verwehren und Verzicht abzuverlangen.
Die Verdrängung gelang bei der für ihre Epoche äußert emanzipierten Salka Viertel (1889–1978) insofern weniger, als sie im amerikanischen Exil erfolgreiche Drehbücher für die legendäre Greta Garbo schrieb, mit der sie eng befreundet war. Wenig überraschend, wollten die Filmmogule in Hollywood hauptsächlich Drehbücher, in denen Viertel der „Göttlichen“ eine Rolle auf den Leib schrieb – und damit auch Garbos Auftritt garantierte.
„Filmzeitschriften nannten mich die künstlerische Beraterin der Garbo, andere die geschäftliche Managerin – obwohl ich niemals von geschäftlichen Dingen eine Ahnung hatte. Sogar die Studioleute, die selber den Garbo-Mythos der Unnahbarkeit erfunden hatten, glaubten schließlich daran“, schreibt Viertel. „Sie war eine sehr treue Freundin: Als ich zu Silvester 1953 in New York einsam und zerstört war – nach dem Tod von Berthold in Wien –, erschien Greta mit einer Flasche Wodka – und so tranken wir uns gemeinsam ins neue Jahr.“
Mit der deutschsprachigen Neuauflage ihrer Lebenserinnerungen vierzig Jahre nach der Erstpublikation wird ein Buch wieder zugänglich gemacht, das zu den Quelltexten der Exilforschung des 20. Jahrhunderts gehört. Und nicht nur das: Das unbelehrbare Herz, 1969 zuerst im amerikanischen Original als The Kindness of Strangers erschienen, schildert über mehr als sechs Jahrzehnte die bewegende Geschichte der jüdischen Familie Steuermann, die Liebesgeschichte von Salka und Berthold und auch das Scheitern dieser Liebe an den trennungsreichen Lebensumständen des US-Exils; dennoch blieben sie über die Scheidung hinaus eng miteinander verbunden.

Für zahlreiche europäische Intellektuelle beschaffte sie lebensrettende Einreisepapiere, und jenen, die plötzlich zu Flüchtlingen wurden, gab sie ein Zuhause.

Das Buch steckt voller packender Biografien, ist ein prall gefülltes Brevier deutschsprachiger Bühnen in Österreich-Ungarn und Deutschland bis 1928, ein Handbuch des Who is who des kalifornischen Exils während des Zweiten Weltkriegs und zur Zeit des Kalten Krieges. Es bietet einen erfahrungsreichen Einblick in die brutalen Methoden Hollywoods und ist gleichzeitig der berührende Bericht über persönliche Abschiede und schmerzliche Verluste der Autorin. Die mitreißend geschriebenen Lebenserinnerungen von Salka Viertel begeistern durch die dichte, flotte und lebhafte Schreibweise der Zeitzeugin.
Geboren wurde Salka Viertel am 15. Juni 1889 als Salomea Sarah Steuermann in der österreichisch-ungarischen Garnisonstadt Sambor (heute Sambir, Ukraine). Ihr am Fluss Dnjestr gelegenes großbürgerliches Elternhaus nannte die Familie „Wychylowka“, das steht im Polnischen für „hinauslehnen“. Ihr Vater, Dr. Joseph Steuermann, Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns, wurde Rechtsanwalt und Bürgermeister in Sambor. Ihre musisch orientierte Mutter stammte aus einer reichen russisch-jüdischen Familie aus Czernowitz. Diese hatte auf eine Karriere als Opernsängerin verzichtet und heiratete Steuermann, um ihrem Vater, der in finanzielle Schwierigkeiten geraten war, nicht zur Last zu fallen.
Salkas Bruder Eduard machte als Konzertpianist internationale Karriere, nachdem er bei Arnold Schönberg studiert hatte: Er wurde zum ersten Interpreten seiner Kompositionen und zu einem Vorkämpfer der modernen Musik. Ihre jüngere Schwester Ruzia studierte Literatur und heiratete 1922 Josef Gielen, der von 1948 bis 1954 Direktor des Wiener Burgtheaters war. Der jüngste Bruder Zygmunt war ein hochbegabter Fußballspieler, der es in die polnische Nationalmannschaft schaffte. Als einziger der Familie verließ er nach 1933 seine Heimatstadt nicht und wurde 1941 im Ghetto von Lwów (Lemberg) ermordet.
Salka wollte nichts sehnlicher, als Schauspielerin werden – ein Beruf, der so gar nicht zum bürgerlichen Selbstverständnis ihrer Eltern passte. Dennoch setzte sie ihren Willen durch und debütierte 1910 im Pressburger Theater, 1911 in Zürich und im selben Jahr an Max Reinhardts Deutschem Theater in Berlin, wo sie bis 1913 auftrat. Mit großem Erfolg spielte sie bis 1918 an der Neuen Wiener Bühne, u. a. die „Alte“ in Heinrich Manns Die Unschuldige. Mann gehörte später in Kalifornien zu ihrem engen Freundeskreis.
Im selben Jahr lernte sie in Wien den jungen Regisseur Berthold Viertel kennen und heiratete ihn. Aus der Ehe gingen drei Söhne hervor: Hans, Thomas und Peter Viertel. Letzterer wurde zu einem der bekanntesten Drehbuchautoren Hollywoods und machte Salka Viertel zur Schwiegermutter der Filmschönheit Deborah Kerr. Da Berthold und Salka Viertel als Ehepaar – Regisseur und Schauspielerin – nicht gemeinsam engagiert werden durften, arbeiteten sie fast zehn Jahre an verschiedenen Bühnen in deutschen Städten. 1928 fuhren sie in die USA, nachdem Berthold Viertel von der Twentieth Century Fox Film Corporation einen Dreijahresvertrag als Drehbuchautor und Regisseur angeboten bekam.

Die Göttliche: Greta Garbo als Königin Christine nach einem Drehbuch von Salka Viertel, 1933. © akg-images/picturedesk.com

Golfstrom der menschlichen Wärme. Obwohl Viertel zwischen 1929 und 1932 neun Filme in Hollywood drehte und mit Fox, Warner Brothers und Paramount für wichtige Studios arbeitete, konnte er sich in diesen Jahren, in denen der Tonfilm die Möglichkeiten der zugezogenen Filmschaffenden zugleich erweiterte und beschränkte, als Filmregisseur keinen Namen machen. Auch für die Beziehung des Ehepaares Viertel waren diese Jahre krisenhaft. Salka Viertel litt darunter, dass sie als Schauspielerin in einem neuen Medium und in einer fremden Sprache kaum Arbeitsmöglichkeiten hatte, und wandte sich Neuem zu: 1932 begann sie erfolgreich als Drehbuchautorin bei MGM und erlebte eine wechselvolle Zeit als Autorin von Drehbüchern für einige Filme mit Greta Garbo sowie eigene Drehbücher. Garbo lernte Salka Viertel 1930 auf einer Dinnerparty des Regisseurs Ernst Lubitsch in Beverly Hills kennen. Damals 24 Jahre alt und auf dem Höhepunkt ihrer Popularität, doch scheu und verletzlich, wurde Greta Garbo von der begnadeten Netzwerkerin Viertel förmlich aufgefangen. Denn während Berthold Viertel an der Filmindustrie scheiterte, war sie es, die ihr Haus in der Mabery Road 165 in Santa Monica zu einem gesellschaftlichen Mittelpunkt machte und in den folgenden Jahren auch den Hauptanteil des Familienunterhalts verdiente.
Für zahlreiche europäische Intellektuelle beschaffte sie lebensrettende Einreisepapiere, und jenen, die plötzlich zu Flüchtlingen wurden, gab sie ein Zuhause: Die sonntäglichen Kaffeebesuche und zwanglosen Abendessen beschreibt Viertel mit solcher Natürlichkeit, dass einem das Namedropping nicht wirklich in den Sinn kommt. Ihr Mann nannte das Haus einen „Golfstrom von menschlicher Wärme; alle Leute wollen nach der Mabery Road. Es wird eine Legende, ein Hafen für die Heimatlosen.“
Zum ständigen Besucher- und Freundeskreis gehörten Bertolt Brecht, Charlie Chaplin, Albert Einstein, Aldous Huxley, Hanns Eisler, Lion und Marta Feuchtwanger, Otto Klemperer, Heinrich und Thomas Mann, Arnold Schönberg und Familie, Sergej Eisenstein, Igor Strawinsky, Johnny Weissmüller, Christopher Isherwood, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel, Carl Zuckmayer und in späteren Jahren Norman Mailer und Vladimir Nabokov. Mit Gottfried, Max Reinhardts jüngerem Sohn, unterhielt Salka Viertel eine zehnjährige Liebesbeziehung.
Berthold Viertel lebte schon seit dem Sommer 1940 mit der Schauspielerin Elisabeth Neumann zusammen, die er 1949, nach seiner Scheidung von Salka und seiner Rückkehr nach Wien, heiratete. Sein Schwager, Josef Gielen, war Burgtheater-Direktor geworden und rief ihn zurück. Was er in Österreich erfuhr, fasste er im Juli 1950 in Gedichtzeilen so zusammen: „Die aber überlebt haben hier, frönen der Lüge schon wieder mit neuer Entschlossenheit.“
Viertel fand bei seiner Rückkehr zum deutschsprachigen Theater – ob in Berlin, Düsseldorf oder Wien – einen „neuen Ton“ vor, der ihn erschreckte und den er „Reichskanzleistil“ nannte. Es fehlten „alle Zwischentöne und Übergänge“, die „die große und reiche Skala der menschlichen Rede“ ausmachen. Der „Reichskanzleistil“ war gleichsam das akustische Symbol der unter der NS-Herrschaft eingetretenen Enthumanisierung und Zerstörung der Kunst.
Berthold Viertel erhielt in Wien bis knapp vor seinem Tod keine Wohnung, musste ständig umziehen und erlangte die österreichische Staatsbürgerschaft erst durch die Intervention von Bundespräsident Theodor Körner wieder. Er starb 1953 im Alter von 68 Jahren und liegt in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof.
Salka Viertel ging es ab 1943 beruflich zunehmend schlechter: Die Karriere des Weltstars Greta Garbo waren vorüber. Zusätzlich hatte sie sich durch ihr antifaschistisches Engagement der Filmindustrie verdächtig gemacht: Sie war in der Filmgewerkschaft aktiv und geriet wegen ihrer „linken, ausländischen“ Freunde in der McCarthy-Ära in das Visier der Kommunistenjäger. Man verweigerte ihr lange einen Reisepass, daher konnte sie Berthold Viertel nicht mehr wiedersehen. 1953 verließ sie die USA endgültig und ließ sich in Klosters in der Schweiz nieder, wo später auch ihr Sohn Peter und dessen Frau Deborah Kerr lebten.
Im Oktober 1978 starb diese faszinierende und mit vielfachen Talenten ausgestattete Frau. 450 Briefe umfasst die unveröffentlichte Korrespondenz zwischen ihr und Berthold Viertel, die im Deutschen Literaturarchiv Marbach auf ihre Aufarbeitung warten. Briefe spielten eine große Rolle in ihrem Leben. Als Salka Viertel einmal gefragt wurde, warum sie mit einem Koffer voller Briefe von Los Angeles nach New York reise, lautete die klare und bestimmte Antwort: „Briefe sind mein einziger wertvoller Besitz.“

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