Ein schwarzes Schaf flippt aus

In seinem aberwitzigen Roman kaddish.com erzählt der Amerikaner Nathan Englander vom Dilemma eines Sohnes in den Zeiten des Internets.

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Nathan Englander: kaddish.com. Deutsch von Werner Löcher-Lawrence. btb, 240 S., € 12,40

Schon bei der Schiwa für seinen verstorbenen Vater fühlt sich Larry höchst unwohl. Wie es während der Trauerwoche üblich ist, gehen Nachbarn und Freunde ein und aus im orthodoxen Haus seiner Schwester Dina in Memphis, dreimal täglich wird dort das Kaddisch gebetet, an dem Larry mehr nolens als volens teilnimmt. Doch als Dina von ihm als einzigem Sohn verlangt, dieses Totengebet für den Vater auch noch die nächsten elf Monate zu sprechen, und zwar, wie es das jüdische Gesetz vorschreibt, „achtmal am Tag“ in einer Synagoge, da flippt das schwarze Schaf der Familie total aus. „Glaubt wirklich jemand, dass G-tt mit einer Punktekarte dahockt und jedes von Larrys Gebeten mit einem Häkchen versieht?“

Als säkularer Jude in Brooklyn lebend, hat sich Larry „postreligiös“ längst von seinem Glauben entfernt. Doch hier geht es um nichts weniger als um das ewige Seelenheil seines Vaters in der „Kommenden Welt“, Sein oder Nichtsein im „Gan Eden“, im Paradies.

„Im Notfall“ könnte er diese Sohnespflicht an einen Stellvertreter auslagern, eröffnet ihm ein Rabbi. Schlaflos im Kinderbett seines Neffen liegend, findet Larry auf seinem Laptop surfend nach einer Pornoseite schließlich auch auf die rettende Website kaddish.com und besiegelt mit seiner Kreditkarte blitzartig den Handel mit Chemi, einem Jeschiwa-Studenten in Jerusalem, von dem er sogar ein Foto sieht.

 

„Glaubt wirklich jemand, dass G-tt mit einer Punktekarte
dahockt und jedes von Larrys Gebeten mit einem
Häkchen versieht?“

 

Metamorphosen. Zwanzig Jahre danach ist aus dem einstigen Abtrünnigen ein reuiger Rückkehrer geworden, aus Larry Reb Shuli, Lehrer in eben der orthodoxen Brooklyner Jeschiwa, an der er selbst lernte, ein glücklicher Ehemann und Vater zweier Kinder. Eine durchaus koschere Idylle, bis Shuli durch einen Schüler, der das Kaddischgebet für seinen verstorbenen Vater verweigert, eine Art Retraumatisierung erfährt, die ihn vollends aus der Bahn wirft. Eine Obsession ergreift ihn, er will von Chemi quasi sein Kaddisch-Recht zurück, aber dieser scheint in den Weiten des Internets, das Shuli mit Hilfe eines computeraffinen Schülers durchsucht, spurlos verschwunden. Alle flehenden Mails bleiben über Monate unbeantwortet, bis sich der Verzweifelte selbst nach Jerusalem auf und dort nach vielen harten Wochen eine ernüchternde Entde-ckung macht. Dass es in dieser beinahe pathologischen Fallgeschichte dennoch zu einer Art Happy End kommt, muss überraschen.

Insiderwissen. Nathan Englander, selbst aus einer orthodoxen New Yorker Community stammend und säkular lebend, kennt beide Welten. Aus den Konflikten, die sich aus dieser Spannung ergeben, schöpft er seine kreative Kraft als Erzähler, zuallererst in seinem höchst erfolgreichen Kurzgeschichtendebüt Zur Linderung unerträglichen Verlangens. Satirisch, tragikomisch, selbstironisch, zum Teil bizarr überzogen, mit jüdischem Witz und Herz und mit viel Insider-Know-how lässt er divergierende Welten aufeinander clashen, so auch die diversen Facetten des amerikanischen Judentums, nicht zuletzt in dessen Beziehung zu Israel, wo der Autor selbst viele Jahre gelebt und studiert hat. Seine Milieus sind stimmig, denn er kennt sie genau und betrachtet sie liebevoll distanziert.In den abgeschotteten Räumen der Talmud-Schüler und Gelehrten greift das an sich verbotene Internet Platz, in seiner allumfassenden allwissenden Präsenz horribile dictu G-tt gleich. Geist und Buchstaben der Gesetze driften auseinander, Auslegung stößt auf Auslegung, Fassaden können täuschen und das nicht nur in den engen Gassen frommer Jerusalemer Viertel. Von all dem erzählt Englander aberwitzig und kenntnisreich, wobei er sein jüdisches, auch talmudisches Wissen manchmal doch eine Spur zu plakativ ausstellt. Ohne das angefügte Glossar bliebe vieles letztlich unverständlich. Nicht ganz zu Unrecht wird Nathan Englander oft mit dem jungen Philip Roth verglichen. Da liegt die Latte zwar etwas hoch, doch in die große Tradition der jüdischsatirischen Erzähler Amerikas darf er sich wohl einreihen.

 

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