Zwei Zäsuren prägten nachhaltig die ersten dreißig Lebensjahre Inge Schönthals: die Flucht ihres jüdischen Vaters 1939, als sie neun Jahre alt war, in die Niederlande und von dort weiter in die USA, die nicht ohne die übergroße Energie seiner christlichen Ehefrau gelungen wäre. Und fünfzehn Jahre später das Wiedertreffen von Tochter und Vater in New York, das in erschütternder Sprachlosigkeit verrann und im Kontaktende.
Im November 1930 kam Inge Schönthal in Essen zur Welt, als Tochter eines leitenden Angestellten in einer in der Ruhrgebietsstadt renommierten Firma für Arbeitskleidung, die einem deutschen Juden gehörte, der, so wie Inges Vater Patriot und Kriegsveteran, alle Gefährdungen und Gefahren für Leib und Leben nach 1933 in den Wind schlug. Hätte sie gedacht, wen sie bis zum Ende ihres langen Lebens – sie starb erst 2018 – kennen lernen würde, europäische Denker, Intellektuelle, Dichterinnen und Autoren, hätte sie damals gedacht, dass sie einem der wichtigsten Buchverlage Italiens vorstehen, dass sie davor als Fotoreporterin mehr als die halbe Welt bereisen würde?
Ende 1939 konnte ihr Vater um Haaresbreite in die Niederlande entkommen und ließ sich dort scheiden, um Frau und Tochter in Deutschland zu schützen. Die Mutter heiratete ein Jahr später einen deutschen Kavallerieoffizier, der in der alten Universitätsstadt Göttingen einer Kaserne vorstand. So wuchs „Ingemaus“, in der abstoßend infamierenden NS-Terminologie ein „Mischling“, während des Zweiten Weltkriegs inmitten von Soldaten auf. Sie war ein Wildfang, springlebendig, ungebärdig, immer in Bewegung, auch später war sie endlos neugierig. 1950, mit knapp 20 Jahren, übersiedelte sie mit ganz kleiner Habe nach Hamburg und begann eine Fotografinnen-Assistenz, die auf ihre übersprudelnde Umgänglichkeit zurückging, hatte sie doch die Fotografin, bei der sie lernte, noch in Göttingen kennen gelernt.
Mit Reisen in damals für die
Durchschnittsbevölkerung unerreichbar
ferne Länder und exotische Regionen wurde
sie beauftragt
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Plastisch zeichnet Mario Meier, der einige Jahre lang die Schweizer Journalistenschule in Luzern präsidierte, die Anfänge des damaligen Nachkriegsjournalismus in Hamburg nach, damals die wichtigste und rastloseste westdeutsche Medienkapitale. Dort wurden Der Spiegel und Stern gegründet, Welt und Bild und andere buntbebilderte Medien. So tauchen die Verleger Rudolf Augstein und Axel Springer auf und viele Journalisten, die sich bei ganz jungen Illustrierten, Zeitungen, Magazinen tummelten. Mittendrin die junge, sehr viel und schnell redende Inge Schönthal, die erste Fotoaufträge Aufsehen erregend gut meisterte. So war es kein Wunder, dass viele Männer des seinerzeit fast ausnahmslos von Männern (allesamt Kettenraucher) dominierten Journalismus sie umschwärmten, mit ihr flirteten, sie hartnäckig umwarben – ausnahmslos vergeblich. Mit Reisen in damals für die Durchschnittsbevölkerung unerreichbar ferne Länder und exotische Regionen wurde sie beauftragt, nach New York, nach Kuba – dort gelang es ihr, sich mit Ernest Hemingway anzufreunden, in dessen Haus sie wochenlang zu Gast war –, nach Frankreich, wo sie ein Interview plus Aufnahmen mit Pablo Picasso machen konnte, der habituell Fotografen zutiefst verabscheute, auch nach Afrika. Es war Scoop nach Scoop.
Die Fotografin und der Verleger. Im Jahr 1958 war sie schließlich eine rastlose, sehr gefragte, aber inzwischen innerlich recht erschöpfte Fotoreporterin. Bei einem Empfang im Reinbeker Haus des RowohltVerlegers Heinrich Ledig-Rowohlt lernte sie den um vier Jahre älteren Giangiacomo Feltrinelli kennen und lieben, Gründer, Inhaber und Leiter des gleichnamigen, damals noch recht jungen Mailänder Verlagshauses, das ein Jahr zuvor weltexklusiv Boris Pasternaks Roman Doktor Schiwago herausgebracht hatte. Auf seinem Schreibtisch in Mailand lag gerade ein Manuskript eines ein Jahr zuvor verstorbenen armen sizilianischen Adligen namens Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Il Gattopardo. Feltrinelli sprach fließend Deutsch, die Familie hatte einen Familienableger in Südtirol, und er war früh schon von deutschen Hauslehrern unterrichtet worden. Der Schnauzbart- und Brillenträger war ein charmantes Mysterium: Er war überzeugter Kommunist und entstammte einer schwerreichen Industriellenfamilie. Inge Schönthal und er heirateten ein Jahr später. Sie nahm Abschied vom Journalismus.
Dann endet diese Lebensbeschreibung jäh mit einer ihrer vielen atemlosen Notizen, sie brauche eine italienische Grammatik. Kein Wort über ihr „zweites Leben“, in dem sie ab 1972, nach dem Tod ihres zum Anarchisten mutierten Mannes, der unter Umständen starb, die bis heute mysteriös anmuten, vier Jahrzehnte lang den Verlag plus großer Kette enorm gut sortierter Buchhandlungen erfolgreich leiten sollte. Im Feltrinelli-Katalog finden sich heute Namen wie Eshkol Nevo, José Saramago, Nadine Gordimer, Roberto Savinio, Alessandro Baricco und Antonio Tabucchi, Paolo Rumiz und Herta Müller. Die italophile deutsche Journalistin Petra Reski stellte 2017, nach einem halben Jahrhundert Frankfurter Buchmesse-Besuche von Inge Feltrinelli, die reichlich rhetorische Frage: „Was wäre Italien ohne die legendäre Verlegerfamilie?“
Marco Meier, fünf Jahre lang Chefredakteur der Zeitschrift Du, ab 2003 TV-Redakteur in Zürich und dort verantwortlich für die Sendung Sternstunden, konnte für sein Buch noch mehrere längere Interviews mit ihr führen. Für sein überbordend detailliertes Buch schöpfte er als Erster aus bisher unveröffentlichtem Material, war sie doch eine fast zwanghafte Nicht-Wegwerferin. So ist er ganz nah, manchmal fast romanhaft nah dran am „ersten Leben“ Inge Schönthal-Feltrinellis.