„Ein Stück Zuhause“

Die jüdische Geminde Reykjaviks ist eine internationale Gemeinschaft und damit auch eine Anlaufstelle für alle auf der Atlantikinsel sesshaft gewordenen Juden.

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©Nelly Z. Graf

Hellblauer Altbau unter grauem Himmel. Während es draußen windet und tröpfelt, ist drinnen die Stimmung herzlich und warm. Hemd oder Jogginghose, Sepharde oder Aschkenase – alle sind hier willkommen. In 2er- und 3er-Gruppen sitzen sie auf Sofas und in Stuhlgruppen und plaudern. Man hört Isländisch, Hebräisch und Englisch mit unterschiedlichsten Akzenten. Immer wieder öffnet sich die Tür, und ein neuer Gast wird freudig begrüßt. Kinder wuseln zwischen den Sitzenden und den lässig an der Kochzeile Angelehnten. Neben mitgebrachten Kuchen und Süßteilchen steht Karen. Sie wurde in Israel geboren und verbrachte einen Großteil ihrer Jugend in den USA. Wenn jemand sie heute fragt, woher sie kommt, sagt sie, sie stamme aus den USA. Damit erspart sie sich unangenehme Meinungsverschiedenheiten, die sie beim ersten Kennenlernen unangebracht findet. In diesem Moment unterhält sie sich angeregt auf Hebräisch mit Mushky Feldman, der Mitbegründerin des Jewish Community Center of Iceland und Frau des Rabbiners. Es ist das erste Mal, dass die Gruppe sich hier trifft – nach zwei Jahren Bestehen hat die nördlichste jüdische Gemeinde Europas nun ein Chabad-Gemeindezentrum im Herzen Reykjaviks. Zur Feier des Tages gibt es koscheren Wein. Noch kann man ihn nirgendwo in Reykjavik kaufen, doch eine willensstarke Freiwillige hat es geschafft, den Wein aufzutreiben. Dieser besondere Einsatz ist kein Einzelfall. Karen betont, dass alle da mithelfen, wo sie können: „Wir sind ja nicht viele, und dass der Aufwand gemacht wurde, um diesen Raum zu schaffen, dafür ist jeder dankbar.“ Sie selbst organisiert immer wieder „Women’s Nights“ und hofft, in der Zukunft Kabbala-Kurse anbieten zu können.

»Wir sind ja nicht viele, und dass der Aufwand
gemacht wurde, um diesen Raum zu schaffen,
dafür ist jeder dankbar.« 
Karen

Junge Gemeinde. Mike hat den mobilen Toraschrein gebaut. Heute sitzt der Musiker bequem in einem Sessel im Ikea-Bistro. Ein gelbes Sperrband verbietet den Zutritt zu den Esstischen. Nur die Essensausgabe und eine Sofaecke sind geöffnet. Die Corona-Auflagen in Island sind vergleichsweise entspannt – Zusammenkünfte von bis zu 20 Personen waren zu jedem Zeitpunkt erlaubt, mittlerweile sind sogar bis zu 50 Personen gestattet;

Die erste Tora-Rolle Islands wurde im Februar beendet, danach zog
man stolz durch die Straßen. ©Nelly Z. Graf

Restaurants und Geschäfte blieben eingeschränkt geöffnet –, und Ikea ist voll. In der jüdischen Community wurden Tora-Unterricht und Challa-Backen in den Covid-Zeiten für ein paar Wochen in das Netz verlegt. Auch von einer provisorischen Bar Mitzwa erzählt Mike. Die Liebe hat den Amerikaner auf die Insel verschlagen. Er ist schon seit den 1980er-Jahren beständig dabei, die auf Island lebenden Juden zu den Feiertagen zusammenzutrommeln. „Ein paar Juden kamen während des Krieges, aber diese Menschen haben sich nicht getroffen und lebten ihr Judentum kaum. Das änderte sich erst, als wir kamen.“ Keine große Überraschung, denn die Geschichte der Juden auf Island ist kurz. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts siedelten zwar immer wieder Vereinzelte in Richtung nördlichem Polarkreis, doch jüdisches Leben gab es nicht. Die Flucht nach Island gelang nur einer Handvoll Juden. Ein Zeitzeuge berichtet von einem tendenziellen Sympathisieren mit Nazi-Deutschland. Erst mit der Ankunft britischer und US-amerikanischer Soldaten 1940 entstanden zwei temporäre Synagogen. „Vielleicht hätten wir es schleifen lassen sollen, wie die vor uns. Aber wir waren zu stur“, meint Mike lachend. Dazu kamen seine Kinder, denen er eine jüdische Kindheit ermöglichen wollte. Ihre jüdische Identität auf Island zu entfalten, war eine Herausforderung, findet Mike. Reykjaviks Gemeinde ist eine internationale Gemeinschaft, Anlaufstelle für alle auf der Atlantikinsel sesshaft gewordenen Juden.

Das neue Gemeindezentrum im Herzen Rekjaviks ist das einzige auf Island. ©Nelly Z. Graf

Oft haben die Liebe oder geschäftliche Gründe sie hierher verschlagen, manchmal der blanke Zufall. Immer wieder tauchten neue Menschen auf, berichtet Mike. Zunächst traf man sich zu Potlucks, also Büfetts, zu denen jeder etwas beisteuert. An Feiertagen wurden für 25 bis 30 Gäste Konferenzräume angemietet und aus einer gedruckten Tora gelesen. Heute sieht das anders aus. Informelle, potenziell unkoschere Büfetts gibt es mit Chabad nicht. „Manche vermissen unsere Potlucks. Und manchen ist Chabad zu extrem, manche haben sich zurückgezogen“, gesteht Mike. Insgesamt sind die Teilnehmerzahlen jedoch gestiegen. Und im Februar wurde die Gemeinde ungemein bereichert: Ein eingeflogener Sofer beendete die erste Tora-Rolle Islands. „Jedem von uns wurde ein Wort gewidmet“, schwärmt Karen und schildert, wie sie mit den Rollen durch die Straßen zogen.

Sederabend. Jüdische Kultur leben – bald soll das Judentum staatlich anerkannte Religion werden. ©Nelly Z. Graf

„Es sind aufregende Zeiten für uns. Jeden Tag kann es jetzt soweit sein“, verrät indes Chabad-Rabbiner Avi Feldman, gebürtiger Brooklyner, aufgeregt. Das Judentum soll staatlich anerkannte Religion werden – schon seit über einem Jahrzehnt wird darüber diskutiert. Die Anerkennung wird die große Frage beantworten: Wie viele Juden leben auf Island? Denn fragt man einen Isländer, sind es keine bis sehr wenige. Fragt man Google, sind es zwischen 40 und 250. Doch fragt man die Gründer des Jewish Community Center of Iceland, sind es einige Hundert, Tendenz steigend. Karen berichtet von einer Kerngruppe aktiver Mitglieder und – unter normalen Umständen – vielen reisenden Besuchern. „Orthodoxe gibt es nur unter den Besuchern. Ich glaube, wenn man orthodox lebt, dann ist Island nicht sehr attraktiv.“ An einer koscheren Infrastruktur wird noch gearbeitet – während 2018 noch über einen mittlerweile verworfenen Gesetzesentwurf, Beschneidungen strafbar zu machen, diskutiert wurde. Wie Karen und Mike leben die Gemeindemitglieder weitestgehend säkular. Deswegen funktioniert es auch so gut, die verschiedenen religiösen Hintergründe zusammenzubringen – es geht um ein Gemeinschaftserlebnis. „Wir teilen einen gemeinsamen kulturellen Boden“, beschreibt Karen die Verbundenheit. Sie lebt sehr gern auf Island, obwohl sie klar zugibt, nie Teil der Mehrheitsgesellschaft zu sein. Trotzdem nimmt sie die ehemaligen Wikinger als freundlich und offen war. Über das Judentum wissen die meisten kaum etwas, sind aber interessiert. Um es mit den vier Söhnen des Sederabends zu versinnbildlichen: Island ist der Sohn, der nicht zu fragen weiß. Mike unterrichtet seine Mitmenschen gerne über seine Religion, Karen hingegen spricht ausschließlich mit Freunden über ihre jüdischen Wurzeln. Beide tragen ihre jüdische Identität mit Stolz. Gemeinsam haben sie die Liebe zu Island und zu ihrer einzigartigen Gemeinschaft – ihrem Stück Zuhause.

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