Eine Bibliothek der geretteten Erinnerungen

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Von Tanja Eckstein

Meine Familie mütterlicherseits stammt aus Zalozce, einem kleinen Ort in Galizien, der sich am Rande der Habsburger Monarchie in der Nähe der bekannteren Städte Kolomea und Brody befindet. Meine Großmutter hat fünfzehn Kinder geboren, davon blieben zehn am Leben. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, veränderte sich das Leben der Juden in dieser Region. Einmal waren die russischen Truppen im Vormarsch, dann waren die Kosaken da, und ein anderes Mal das österreichisch-ungarische Heer. Es ging hin und her, bis meine Familie die Flucht antrat.

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Meine Großeltern und ihre acht Kinder verließen 1916 ihre Heimat und kamen 1917 in Wien an. Während der Flucht, die ein Jahr dauerte, wurde 1916 meine Tante Klara geboren. Meine Tante Berta kam 1918, bereits in Wien, auf die Welt. Es war sehr schwer in Wien mit den vielen Kindern, und eigentlich waren sie mittellos.

Die Großeltern wohnten im 20. Wiener Gemeindebezirk

Die Wohnung meiner Großeltern war in einem Zinshaus im 20. Bezirk, in der Perinetgasse 2. Die Perinetgasse ist eine sehr kurze Gasse; zwei Häuser stehen auf der rechten Seite und zwei Häuser auf der linken Seite, die zum Gaußplatz führt. Das war die erste Unterkunft meiner Großmutter – und die letzte. Mein Großvater starb 1918, ein Jahr, nachdem sie in Wien angekommen waren, an der Spanischen Grippe.

Meine Mutter Miriam wurde im März 1902 in Zalozce geboren. Sie heiratete meinen Vater Leo Hochbaum, der Bankbeamter war, im Schopenhauertempel im 18. Bezirk. Ich wurde 1926 in Wien geboren.

„Meine Großmutter war das Zentrum der Familie. Bis zum Einmasch der Nazis lebten wir friedlich miteinander in ihrer Wohnung.“ Paul Back

Mein Vater war ein ruhiger und sensibler Mensch, war aber dem Spiel verfallen, hat sich kaum zu Hause aufgehalten und sich viel zu wenig mit seiner Familie beschäftigt. So ist es kein Zufall, dass sich meine Mutter im Jahre 1936, nach zehn Jahren Ehe, scheiden ließ und wieder zu meiner Großmutter in die Perinetgasse zog. In dieser Einzimmer-Kabinett-Wohnung lebten außer meiner Großmutter zu dieser Zeit noch drei Geschwister meiner Mutter, Tante Berta, Tante Klara und Onkel Leon.

Ich war damals zehn Jahre alt und wurde im Unterbergergymnasium  nahe dem Augarten eingeschult. Meine Großmutter war immer das Zentrum der Familie. Wir lebten dort, und trotz der beengten Verhältnisse waren wir glücklich. Die religiösen und die nicht religiösen Tanten und Onkel verstanden sich sehr gut. So lebten wir bis zum Einmarsch der Nazis friedlich miteinander.

CENTROPA (The Central Europe Center for Research and Documentation) ist das erste „Oral History“-Projekt, das jüdische Geschichte anhand von Familienfotos und den begleitenden Geschichten dokumentiert.

Seit Beginn des Projekts „Jüdische Zeugen eines europäischen Jahrhunderts“ im Jahr 2000 hat Centropa mehr als 1.250 Lebensgeschichten und knapp 25.000 Familienfotografien digitalisiert. Interviews wurden in den meisten Ländern Mittel- und Osteuropas  geführt. Die geführten Interviews dokumentieren mehr als den Holocaust, sie eröffnen die gesamte Bandbreite jüdischen Lebens im 20. Jahrhundert, denn die befragten Personen erzählen Familiengeschichte anhand ihrer Familienfotos.

Centropa stellt dieses Material – das sorgfältig aufgearbeitet  wird – für Museen und Bibliotheken, für Buch- und Bildungsprojekte in Europa, den USA und Israel zur Verfügung.

at.centropa.org

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