Eine „Carte blanche“ für kritisches Kino

Im Rahmen eines Austauschprogramms mit der Jerusalem Cinematheque sind in einer Retrospektive Meisterwerke des israelischen „Tagebuchfilms“ in Wien zu sehen. Wie es zu der sehr subjektiven Auswahl kam, erzählt Alessandra Thiele vom Österreichischen Filmmuseum.

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Yoman Sadeh – Field Diary, Amos Gitai, 1982. © ÖFM/TelAvivCinematheque

WINA: Gibt es schon länger eine Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern im Bereich Film, und wie kam es zur Idee des Programmaustauschs?
Alessandra Thiele: Ja, wir haben schon seit Jahren mit dem Filmarchiv in Jerusalem einen regen Austausch, auch was die programmatische Arbeit betrifft. Dort restaurieren und konservieren sie Filme, haben ein jährliches Filmfestival und auch ein Kino, also Spielbetrieb, während es in der Kinemathek in Tel Aviv nur ein Kino gibt. Maßgebend für die aktuelle Retrospektive war dann das Österreichische Kulturforum in Tel Aviv, das neben dem Zukunftsfond das Vorhaben finanziell unterstützt hat.

Vergangenen Dezember wurde „From Austria to Israel“ präsentiert, wo Sie ja dabei waren. Wo wurde da was gezeigt, und welche Schwerpunkte gab es in der Auswahl?
I Alle fünf Filme des Programms wurden sowohl in Jerusalem wie auch in Tel Aviv gezeigt. Die thematische Auflage, die wir bekamen, war in etwa: Frauen, Minderheiten, jüdische Identität, und außerdem sollte auch Österreich ein wenig repräsentiert werden, das war bei nur fünf Filmen schwierig. Ich habe dann zwei Filme von Frauen, Ruth Beckermann (Die papierene Brücke) und Anja Salomonowitz ( Das wirst du nie verstehen), ausgewählt und den Streifen von Axel Corti (Wohin und zurück. Welcome in Vienna), den sich Israel gewünscht hatte. Außerdem zeigten wir Der Prozess von G. W. Pabst, wie ich finde, einfach ein großartiger historischer Film mit aktuellem Bezug. Der Streifen Untitled, eine Art Tribute an den viel zu früh verstorbenen Michael Glawogger, fiel etwas heraus.

»Es ist aber die Auswahl der israelischen Kuratoren gewesen und vielleicht ein bisschen, da
kann ich nur spekulieren, deren Interpretation unserer Erwartungshaltung.«

Welches Publikum gab es bei den Vorführungen?
I Das Publikum ist wie bei unseren Veranstaltungen eher mittleren bis älteren Alters; junge Leute mit einem historischen Programm anzuziehen, ist sehr schwierig. Alle Filme mussten auf Hebräisch untertitelt sein, das ist natürlich ein Aufwand. Die Vorstellungen waren nicht ausverkauft, aber recht gut besucht.

Alessandra Thiele ist stellvertretende Geschäftsführerin des Österreichischen Filmmuseums. © ÖFM/Eszter Kontor

Wie stellt sich Israel als Filmland aus Ihrer Sicht im Vergleich zu Österreich dar?
I Die Länder sind von der Bevölkerungsanzahl her etwa gleich groß, und es gibt da wie dort ein paar große Namen und sehr viele Filmemacher. Anders ist natürlich die politische Situation, mit der sich die Kunst und besonders auch der Film in Israel auseinandersetzen. Österreich ist in seinen Kunstäußerungen allgemein wenig politisch, was ich eigentlich bedauere, das betrifft auch das Filmschaffen.

Wer war für die Auswahl der Filme, die nun hier gezeigt werden, verantwortlich? Hat es da von Seiten Wiens Vorgaben gegeben?
I Der Titel „Carte blanche“ soll ja darauf hinweisen, dass die jeweiligen Kuratoren freie Hand haben. Daher haben wir uns wenig eingemischt. Wir wollten aber z. B. unbedingt Filme von Amos Gitai, weil er hierzulande kaum zu sehen ist, haben letztlich aber nur einen (Field Diary) bekommen. Unser Programmchef Jurij Meden hat dann den zuständigen Leute in Israel einfach die Auswahl überlassen, die nun eigentlich ein Kompromiss geworden ist. Gezeigt werden jetzt Beispiele aus dem Genre des „Diary- Diary, Amos Gitai, 1982. Films“, des Tagebuchfilms, das eine besondere Tradition im israelischen Filmschaffen hat. Es bedeutet im Wesentlichen, dass Politisches, Aktuelles auf eine sehr subjektive, essayistische Art dargestellt wird, d. h. es wird aus dem politischen Anlass ein sehr persönliches Narrativ entwickelt. Filmhistorisch ist die Auswahl jedenfalls interessant, weil sie in den fünf Filmen aus verschiedenen Zeiten das Genre erforscht und die Einsicht vertieft.

Mir persönlich erscheint die Optik ziemlich einseitig, wenn man sich allein die Inhaltsangaben ansieht. Es sind durchwegs Filme, die sich äußerst kritisch mit der Besatzung auseinandersetzen. Da wird das Image Israels als Besatzungsmacht durchaus verstärkt. Es sind wahrscheinlich auch Filme, die in Israel kontroversiell aufgenommen
worden sind. Aus dem reichen Filmschaffen Israels, wie wir es in den verschiedenen Festivals teilweise schon kennengelernt haben, könnte ja auch eine andere Seite des Landes gezeigt werden.
I Die jetzt nicht vorkommt. Es ist aber die Auswahl der israelischen Kuratoren gewesen und vielleicht ein bisschen, da kann ich nur spekulieren, deren Interpretation unserer Erwartungshaltung, das heißt, was Österreicher eventuell sehen möchten. Außerdem sind es Filme, die hier noch nicht zu sehen waren. Sie bilden insgesamt eine Einheit und zeigeneine Art Entwicklung in der filmischen Auseinandersetzung mit den Konflikten im Land. Das kann man natürlich einseitig nennen.

Ha-Nashim Mimul – The Women Next
Door, Michal Aviad, 1992. © ÖFM/TelAvivCinematheque

Aus Gründen der Objektivität wäre es wünschenswert, dass der eine oder andere Streifen diese Perspektive konterkariert hätte und nicht eine vermutete Erwartungshaltung des Publikums verstärkt.
I Das ist eine gute Bemerkung, die vielleicht zu einer Fortsetzung führen könnte. Es gab ja eine sehr positive Erfahrung der Zusammenarbeit, es sind ganz großartige Kollegen, mit denen wir gern immer wieder was zusammen machen würden, und eventuell ergibt sich eine Gelegenheit, eine andere Optik hineinzubringen.

Es gibt zur Retrospektive Einführungen, wird es auch Diskussionen geben?
I Die Filme werden hier und im Moviemento-Kino in Linz gezeigt. Angedacht sind nur Einführungen, aber keine Diskussionen. Meir Russo, der gemeinsam mit der Kuratorin Tamar Freeman die Filme hier einleiten wird, ist der Chef des Filmarchivs in Jerusalem,
das ein großartiges „State of the Art“-Archiv ist, um das man Israel nur beneiden kann. Es hat eine großartige technische Ausstattung, und alles ist wirklich sehr schön. Sie haben einfach viel mehr Geld. Wir haben ein Budget von ungefähr zwei Millionen, und dort gibt es sechs, hauptsächlich von privaten Förderern, die wir hier nicht haben. Es ist ganz toll, dass der Archivchef Meir Russo kommt, denn er ist schon etwa 40 Jahre dabei und kann uns über den konkreten Anlass hinaus sicherlich viel Input geben.

Carte Blanche:
JERUSALEM CINEMATHEQUE
25. und 26. März 2020
Österreichisches Filmmuseum
Augustinerstr. 1, 1010 Wien.
Tel. 01/ 533 70 54.
filmmuseum.at

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