Eine kleine Wiener Papiertheatergeschichte

Brigid Grauman erzählt in Onkel Ottos Papiertheater eine jüdische Familiensaga.

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Brigid Grauman: Onkel Ottos Papiertheater. Eine jüdische Familiensaga. Edition Konturen 2020. 232 S. mit vielen Abb., € 24,80

„Alle meine Vorfahren waren Migranten“, lässt Brigid Grauman ihre Familienhistorie Revue passieren, und damit hat sie Recht. Sie selbst, 1953 in Genf geboren, verbrachte ihre Kindheitsjahre in Frankreich, Israel und Belgien, wo sie später lange das englischsprachige Nachrichtenmagazin Bulletin herausgab. Ihr Großvater mütterlicherseits wuchs in Armut in Irland auf und wurde später Botschafter der Inselrepublik in London. Der andere Großvater, im tschechischen Brünn als Sohn eines einfachen Schuhmachers aufgewachsen, lebte später als international tätiger Anwalt in Wien. Ihre Mutter verließ Großbritannien und ließ sich in Brüssel nieder, ihr Vater wurde in Wien geboren, war allerdings amerikanischer Staatsbürger und lebte die meiste Zeit seines Lebens in Frankreich, den USA und in Wien.

Vernichtung, Verzweiflung, Hoffnung und Kraft – zwischen Wien, Prag und der großen weiten Welt.

Die Geschichte, die Grauman nun in dem sehr persönlichen, dabei transfamiliären Buch über das von Onkel Otto geschaffene wundersame Papiertheater erzählt, beginnt in Klosterneuburg, in einer Villa und an einem Sonntagnachmittag im Sommer 1932. Robert, „Bob“ gerufen (und später Brigids Vater), war sechs Jahre alt, sein Onkel Otto Ende 30 und hantierte an einem großen Eichentisch mit Karton, Bleistiften, Wasserfarben, Scheren und Klebstoff. Es entstand – ein Theater aus Papier. Solches zu bauen, war eine seit dem Biedermeier aus Großbritannien importierte Mode. Vor drei Jahren führte dies auch eine reizende Ausstellung im Wiener Theatermuseum vor Augen. Es gab extra Ausschneidebögen, die in Papeterien erworben werden konnten, Kulissen und Einzel- wie mittels Draht verbundene Doppelfiguren, ja Theaterprospekte im Ganzen wurden gebastelt. In den eigenen vier Wänden wurden beliebte Opern und Theaterstücke nachgespielt.

Als Brigid klein war, erzählte ihr der Vater davon, von den Nachmittagen und den Aufführungen vor der großen Familie aus Wien, Prag und Brünn. Und sie erfuhr, dass es sich tatsächlich erhalten hatte, beim hochbetagten Cousin Bus, der mittlerweile im walisischen Cardiff lebte und einst für die Tschechoslowakei Mitglied der olympischen Schwimmequipe war. Anhand von Bus’ Erinnerungen, seiner Autobiografie und den Aufzeichnungen neun anderer Verwandter rekonstruiert Grauman das Schicksal der Familie in den Irrungen und Verwerfungen in Mittel- und Westeuropa der vergangenen 150 Jahre. Und findet im fragilen Papiertheater einen schönen, symbolisch-subjektiven Fokus. Und das im Wortsinn. Denn dieser Brennspiegel ist zugleich auch Vergrößerungsglas der Mikrohistorie als überwölbende Makrogeschichte zwischen Schöpfertum und Vernichtung, Flucht, Verzweiflung, Hoffnung und Kraft.

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