Mit baritonalem Schmelz und Wiener Charme legt Gerhard Ernst spürbar echtes Gefühl in seine Interpretation von Hermann Leopoldis unverwüstlichem Schlager In einem kleinen Café in Hernals. Er singt das wehmütige Lied diesmal beim Benefizkonzert im Jüdischen Museum Wien vor seinem Fan-Publikum und vor Sponsoren, aber er weiß, dass er sich auf ein ganz anderes Publikum dabei vorbereitet: „2019 bin ich das erste Mal bei den Österreichischen Kulturtagen in Tel Aviv mit dem Künstlerteam von Judith Weinmann aufgetreten. Schon damals sind mir die Gespräche mit den betagten jüdischen Vertriebenen sehr nah gegangen“, erinnert sich der 78-Jährige. „Der rüstige 98-jährige Robert Pereles hat mir gesagt, dass er sein Überleben während der Shoah nur seiner Mutter zu verdanken hat, die ihn als Vierjährigen aus dem fahrenden Viehwaggon geworfen hat, der sie dann direkt in die Gaskammern von Auschwitz gebracht hatte. Ich war erstaunt, wie er das so ganz ohne Hass erzählte. Wenn man so etwas liest, ist es schon schlimm genug, aber wenn man es aus dem Mund dieses eleganten Herrn hört …“
Die Empathie und das Interesse an diesen ehemaligen Österreichern hat Judith Weinmann-Stern, die Obfrau des Vereins Wien-Tel Aviv und Initiatorin dieser Kulturtage, nicht nur auf den Künstler Ernst, sondern auf viele weitere übertragen. Vor elf Jahren beschloss die Mutter dreier erwachsener Kinder, etwas für die nach Israel geflohenen Altösterreicher zu tun. „Ich wollte ihnen die Musik wiederbringen, die sie in ihrer Kindheit und Jugend zu Hause gehört hatten, die sie an ihr Elternhaus erinnerte“, erzählt Weinmann, die durch die Arbeit ihres Vaters, Desider Stern, der die erste Biobibliografie jüdischer Autorinnen und Autoren in deutscher Sprache veröffentlichte, sehr früh mit der Bedeutung des Wortes „Exil“ in Berührung kam. „Ich habe schon in jungen Jahren begriffen, welche Konsequenzen das für die betroffenen Menschen hat.“
Mit Tatkraft und Entschlossenheit veranstaltete sie im Mai 2013 zum ersten Mal die Österreichischen Kulturtage in Tel Aviv. „Die glänzenden Augen und die strahlenden Gesichter dieser betagten Menschen werde ich nie vergessen. Sie schunkelten und sangen die Lieder, als ob sie erst wenige Monate zuvor Österreich verlassen hätten. Die älteste Besucherin war 101 Jahre alt, der Altersdurchschnitt lag zwischen 85 und 95 Jahren.“
Weinmann erfüllte sich mit viel persönlichem Einsatz – auch, um die nötigen Sponsorengelder zu lukrieren – ihren Herzenswunsch, diesen geflüchteten und vertriebenen Exil-Österreichern einige Stunden mit unbeschwerten Erinnerungen zu verbringen. Gleichzeitig brachte sie Werke von Künstlern und Autoren auf die Bühne, die ebenfalls unter dem NS-Terror gelitten hatten, weil ihre Musik damals als „entartet“ galt und verboten war: „Ich wollte diesen Kreis in Israel schließen.“
Die Künstlerschar, die die umtriebige Organisatorin diesmal für die Konzerte in Israel – geplant für 22. bis 24. November 2024 – gewinnen konnte, präsentierte Ende Juni im JMW ein mitreißendes Potpourri aus Walzer-, Csárdás- und Klezmer-Melodien, die auch das Wiener Publikum zum Mitsingen und Mitklatschen animierte. Für die jiddisch-sentimentale, aber auch beschwingte Note sorgten Roman Grinberg am Klavier und der Klarinettist Sascha Danilov. Lior Kretzer, der an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien Dirigieren und Komposition unterrichtet, begleitete die Sopranistin Julia Koci, Ensemblemitglied der Wiener Volksoper, sowie den Tenor Franz Gürtelschmied durch einen Strauß beliebter Operettenlieder, darunter Ohrwürmer, wie das Vilja-Lied aus Franz Lehárs Lustiger Witwe oder das Auftrittslied der Gräfin Mariza aus der gleichnamigen Operette von Emmerich Kálmán. Das spritzige Komm Zigány aus dieser Operette interpretierte Gürtelschmied flott und charmant. „In Tel Aviv hat mich zuletzt eine Dame angesprochen, ob ich ihr nicht den Tango Chitarra romana von Elmo di Lazzaro singen könnte – diesen Schlager hat u. a. auch Luciano Pavarotti gesungen. Wir haben uns verabredet, dass ich das einstudiere und beim Konzert im November für sie singe. Hier und heute bekommen sie die erste Kostprobe!“ Sprach’s und legte los.
„Ich wollte ihnen die Musik wiederbringen,
die sie in ihrer Kindheit und Jugend zu Hause gehört hatten, die sie an ihr Elternhaus erinnerte.“
Judith Weinmann-Stern
Während 2013/14 fast nur die Generation der Überlebenden, also 70- bis 80-Jährige zu den Konzerten kamen, waren es im März 2023 bereits Besucher zwischen zwölf und 103 Jahren. „Meine Erklärung dafür ist, dass jetzt die zweite und dritte Generation nicht nur als notwendige Begleitung zu den Konzerten mitkommt, sondern das Vertrauen in das Land und seine Menschen gestiegen ist, weil sich die politische Haltung Österreichs positiv verändert hat.“ Die Kinder und Enkelkinder sind heute neugierig auf jene Kultur, die Teil der Identität ihrer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern gewesen ist und derart weiterlebt.
Aber um dieses Projekt elf Jahre am Leben zu erhalten, war mehr notwendig als nur Herzenswärme: Da die Besucherinnen und Besucher der Wien-Tel Aviv-Konzerte nicht aus Altersheimen herangekarrt werden, sondern oft mit Betreuung im eigenen Zuhause wohnen, muss man ihre An- und Rückfahrt nicht nur organisieren, sondern auch finanzieren, denn viele von ihnen leben an der Armutsgrenze. Damit alle, die es sich wünschen, die Konzerte besuchen können, sind sie kostenlos eingeladen, und ihre Fahrtspesen werden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in Wien übernommen. „Über die Jahre habe ich zu diesen wunderbaren Menschen enge persönliche Beziehungen aufgebaut, ich treffe sie mehrmals im Jahr“, berichtet Judith Weinmann. „Als ich zum ersten Mal mit Robert Pereles sprach und er mir, wie auch Gerhard Ernst, seine Geschichte erzählte, habe ich begriffen, dass ich es hier mit unwiederbringlichen Gesprächen mit Zeitzeugen zu tun habe, die ihre Erlebnisse noch niemandem in ihrer deutschen Muttersprache erzählt hatten. Das hat mich getriggert, mit den Aufnahmen der Interviews zu beginnen – jetzt besitze ich bereits ein stattliches Archiv.“
Wiener Kaffeehausgefühle. Für diese entspannten Gespräche zwischen den Konzert-Besuchern und den Musikern und Sängerinnen gibt es einen besonderen Rahmen: ein Wiener Kaffeehaus im Konservatorium im Norden Tel Avivs und von einem Steirer betrieben. „Es ist ein Vergnügen zu sehen, wie diese betagten Menschen die Atmosphäre eines Kaffeehauses, Sacher- und Linzertorten sowie Apfelstrudel genießen und sich für kurze Zeit in ihre alte Heimat zurückversetzt fühlen“, freut sich Weinmann. Hier erzählt ihr die 98-jährige Trixi Schwarz, geboren in der Brigittenau, ihr anhaltendes Trauma: das klirrende Geräusch der Glasscherben aus dem Tempel um die Ecke, in der Pogromnacht 1938. Oder Herbert Klinger, ursprünglich aus Leoben, singt Weinmann das Lied Sag zum Abschied leise Servus, um an seine ermordete Mutter zu erinnern: Diese hatte ihm ihren kostbaren Ring mit auf die Schiffsreise nach Haifa mitgegeben, um diesen nach ihrer Ankunft in Palästina wieder zu bekommen – doch Klinger sah sie nie wieder.
„2019 waren noch alle am Leben, 2021 leider nicht mehr. Ich habe die beiden Gerstl-Schwestern, Herta und Trude aus Wiener Neustadt, in Herzlia noch zusammen interviewen können. Trude, jetzt Judith, ist im Mai 2022 kurz vor ihrem 95. Geburtstag gestorben. Im November davor summte sie die Wiener Lieder noch glückselig mit.“ Mira (vormals Herta) Yaron, die blonde jüngere Schwester, erinnerte sich noch bitter daran, wie sie als Fünfjährige mit ihrem Vater und ihrer kaputten Puppe in eine Reparaturwerkstatt auf der Währinger Straße ging. Der Verkäufer habe sie untereinander reden gehört und gefragt, ob sie Juden seien. Als sie bejahten, sagte der Mann: „Für Judenkinder reparieren wir keine Puppen.“
In den Jahren 2020 und 2021 konnten die österreichischen Künstler wegen der Covid-Pandemie nicht einreisen; 2022 wurde das Konzert erfolgreich abgehalten, und 2023 begann nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober in Israel der Krieg. „Lior Kretzer, der Pianist und Dirigent mit israelischem Pass, wurde meine größte Stütze, da er mir versicherte, dass wir, egal was passiert, jedes Jahr ein Konzert mit Israelis in Tel Aviv für unser treues Publikum veranstalten könnten“, freut sich die Obfrau. So kam es, dass Kretzer die Wiener Lieder mit drei jungen israelischen Sängern und einer Sängerin einstudierte – die kein Wort Deutsch konnten. So erklangen für die Altösterreicher auch am 8. März 2024 Melodien wie Im Prater blüh’n wieder die Bäume, Schön ist so ein Ringelspiel, Grüß mir mein Wien oder Adieu, mein kleiner Gardeoffizier.
„Wir hoffe alle, dass der Krieg bis zu unserer Reise im heurigen November vorbei ist“, sagt ein nachdenklicher Gerhard Ernst (auch als „Der Hofstädter“ aus der TV-Werbung bekannt), der erst jüngst in der Erfolgsproduktion Lass’ uns die Welt vergessen – Volksoper 1938 die berührende Rolle des Bühnenmeisters verkörperte. Roman Grinberg hatte ihn vor fünf Jahren angesprochen, ob er bei den Österreichischen Kulturtagen in Tel Aviv mitmachen möchte. „Ich habe sofort zugesagt und Urlaub von der Volksoper genommen“, lacht er. Ein wenig in die jüdische Materie hatte er sich schon mit 32 eingearbeitet, als er 1978 zum ersten Mal in Krefeld den „Tewje“ in Anatevka sang. „Dort habe ich mich mit dem Präsidenten der jüdischen Gemeinde zusammengesetzt und vieles erfahren. Ich habe die Rolle über die Jahre sicher 300-mal gespielt, und als Intendant der Festspiele Kittsee dort auch inszeniert.“
Mit den leichtfüßigen Evergreens Powidltatschkerln, A klane Drahrerei, Die Novaks aus Prag oder Der Papa wird’s scho richten eroberte Gerhard Ernst schnell die Herzen der Zuhörer. Aber er kann es auch mit Tiefgang: Für seine Soloprogramme Der Herr Karl, Friedrich-Torberg-Lesungen oder tiefsinnig-böse Texte von Georg Kreisler ist er gut gebucht. Sorgen macht er sich über die innenpolitische Entwicklung in Österreich, denn die NS-Vergangenheit seiner Wiener Landsleute berührt ihn nicht nur, wenn er mit jüdischen Menschen zusammen ist. „Meine Mutter, Jahrgang 1915, hat nie über diese Zeit gesprochen. Erst als Erwachsener habe ich zufällig durch den Besuch einer nach Amerika ausgewanderten jüdischen Familie erfahren, dass meine Großmutter und meine damals 24-jährige Mutter diese Menschen vier Monate lang in unserem Keller im 15. Bezirk versteckt und somit gerettet haben. Als ich wissen wollte, warum sie mir das nie erzählt hat, sagte sie: ,Das interessiert niemanden!‘ Und ich darauf: ,Oh doch, mich interessiert das!‘“