Eine nachhaltige, bittere Abstimmung

Die Abwanderung hoch qualifizierter Fachkräfte wie Akademiker und Wissenschafter aus Israel nimmt besorgniserregende Ausmaße an.

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Kaum ein Mensch verlässt sein angestammtes Zuhause aus reiner Abenteurlust. Verliert man damit doch sein wohlvertrautes soziales Umfeld, beruflich und privat. Entschließt man sich dennoch dazu, gibt es meist sehr triftige Gründe. In Europa haben wir uns schon daran gewöhnt, dass wir das ganze Jahr über, aber insbesondere zu den jüdischen Feiertagen auf Ivritsprechende Touristen treffen: Israelis reisen gerne, und besonders gerne weit weg – von ihren feindlichen Nachbarn. Das sollte uns nicht überraschen, leben wir doch (noch relativ) friedlich und sicher in Mitteleuropa, ohne täglich mehrfaches Sirenengeheul, das ja ständig eine unmittelbare Lebensgefahr signalisiert.

Haben wir, Juden in der Diaspora, doch beschlossen, dass die Israelis die zionistische Pionierarbeit und das Kämpfen um das Überleben eines jüdischen Staates für uns übernommen haben. Dafür erteilen wir dann gute Ratschläge aus der gemütlichen Loge. Doch verstärkt seit dem Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 und dem Mehrfrontenkrieg haben immer weniger Israelis Lust auf ihr Heldenleben. Israelis wandern in einer noch nie da gewesenen Zahl ins Ausland aus – nehmen ihr Geld, ihre Ausbildung und ihre beruflichen Fähigkeiten mit. In den 1970-Jahren nannten sie ihre Landsleute, die dem Land den Rücken kehrten, noch ziemlich verächtlich „Jordim“, also „Absteiger“. Heute sagt man dazu „relocation“ – und dies ganz ohne Häme, teils mit Verständnis, teils mit ein wenig Neid.

Bei diesen Auswanderern handelt es sich überwiegend um privilegierte Menschen, denn sie gehen nicht ohne Sicherheiten: „Unsere Anwaltskanzlei hilft z.B. israelischen Unternehmen bei der Umsiedlung ihrer Mitarbeiter zu Muttergesellschaften in den USA oder Kanada“, erzählt Rechtsanwalt Liam Schwartz in einem Gespräch mit meinem Kollegen Pierre Heumann von der Schweizer Weltwoche. Schwartz nennt sie deshalb privilegiert, weil viele andere Israelis nicht die Chance haben, ein Arbeits- oder reguläres Visum zu beantragen, weil sie unqualifiziert sind oder nicht über die nötigen Mittel verfügen. Schon seit der Diskussion um die umstrittene Justizreform im Januar 2023 überlegten 68 Prozent der israelischen Start-up-Unternehmen, den heimatlichen Standort zu verlegen.

In den ersten sieben Monaten dieses Jahres verließen 40.600 Menschen das Land, durchschnittlich 2.200 mehr pro Monat als 2023.

Wen wundert’s? Großteils fühlen sich Israelis erschöpft und entmutigt. Die langjährige Anspannung durch fast tägliche physische Bedrohung, die am 7. Oktober wahrlich den Höhepunkt des Schreckens und der Ernüchterung brachte, ist eine schier unerträgliche Last. Die Sorge um die Kinder, Geschwister und Reservisten, darunter zu viele Väter, bringt die israelische Gesellschaft an den Rand ihrer Belastbarkeit. Gar nicht zu denken an die vielen Toten und zahllosen Verwundeten.

Theoretisch können sich mehrere hunderttausend Israelis ins Ausland absetzen, weil sie einen Zweitpass haben: Etwa 300.000 bis 500.000 Israelis besitzen einen US-Pass, und rund eine Million Israelis besitzen EU-Pässe. Fast 8.000 Israelis haben in diesem Jahr kanadische Arbeitsvisa bekommen, das sind fünfmal so viel wie noch 2023. Viele, die auswandern, denken an die Zukunft ihrer Kinder, ohne Militärdienst, ohne Angst vor dem nächsten Krieg. Doch es gibt einen weiteren Faktor: den wachsenden Einfluss religiöser Gruppen.

Ein kleiner Lichtpunkt: Laut World Zionist Organisation in Tel Aviv sind seit dem 7. Oktober mehr als 30.000 Neueinwanderer in Israel angekommen, darunter großteils Franzosen, Kanadier und US-Bürger. Das Verhältnis von Israel und der jüdischen Diaspora war immer ein asymmetrisches, das nicht auf Augenhöhe, sondern schlechtem Gewissen beruhte und noch immer beruht. Auch wenn wir die Abstimmung vieler Israelis mit den Füßen als sehr bedauerlich für das Land empfinden – was gibt uns das Recht, darüber zu jammern?

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