
Adi Negev-Nahalat Eran ist ein kleines Dorf im Negev, gleich dahinter kommt Ofakim, zwanzig Kilometer sind es von hier bis zur Grenze von Gaza. An dieser Straße sind die Terroristen am 7. Oktober 2023 vorbeigefahren. Aber sie haben nicht versucht hereinzukommen. Vermutlich dachten sie, es handle sich um ein Schulgelände – also leer am Schabbat. Kurz zuvor hatte an diesem Morgen ein Shuttlebus noch Mitarbeiter wie immer gegen sieben Uhr zur Frühschicht gebracht. Zwei Minuten später preschten die weißen Toyotas der Hamas hier entlang.
Es dauerte, bis man im Dorf zu begreifen begann, was außen herum passierte. Wenig später suchte eine Gruppe junger Frauen Zuflucht, sie kamen von der Rave-Party in Re’im, waren verdreckt und unter Schock. Sie waren gar nicht richtig ansprechbar. „Wir dachten erst, die seien unter Drogen“, wird rückblickend erzählt. Eine Kollegin, die zurück nach Ofakim wollte, wurde auf dem Weg erschossen.
Dann aber dauerte es nicht lange, bis man sich in Eran Nahalat neu aufstellte oder besser gesagt, das bestehende Programm erweiterte. „Es war schnell klar, was der künftige Bedarf sein würde“, sagt Dina Rachamin, die bei ADI fürs Fundraising zuständig ist. Neben der Unterstützung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen geht es seither viel um Traumabewältigung und Rehabilitation. Ein weiteres neues Programm – Taking Charge of Life – soll Soldaten und ihren Familien helfen, wieder ins Leben zurückzufinden. Dazu gehören auch Kurse zur Unternehmensgründung.
Wenn man ins Dorf hineinkommt, erstaunt das viele Grün, mitten in der Wüste. Es gibt auch ein Gewächshaus, Gemüsefelder und Pferde. Die inneren Wege sind von Wasserläufen gesäumt, man soll das Plätschern hören und die Pflanzen riechen. Das ist Teil des Konzepts.
In dieser Oase werden seit 2005 junge Menschen mit schweren Behinderungen rund um die Uhr betreut. Gegründet wurde das Dorf von Doron Almog, der damals auf den Posten des Generalstabschefs verzichtet hat, um einen Ort aufzubauen, in dem Kinder wie sein autistischer Sohn Eran – nach dessen Tod wurde das Dorf nach ihm umbenannt – angemessene Lebensumstände vorfinden.
Um solche Kinder kümmert sich Monique als Ergotherapeutin. Man müsse sehr bescheiden sein, sagt sie, wenn es um die Frage nach der Zielsetzung gehe. Denn der Erfolg werde in Millimetern gemessen. Etwa, wenn es manche ihrer Zöglinge so weit bringen würden, am Tisch zu sitzen und zu essen.
Inzwischen gibt es sechs Kindergärten für Schwerstbehinderte und zwei für Kinder mit Autismus. Und eine Schule für die Kinder aus der Umgebung – aus jüdischen Ortschaften und Beduinendörfern. Ältere Bewohner leben in Wohngemeinschaften. Eine diverse Gesellschaft findet sich hier zusammen, was sich Almog zum Ziel gesetzt hatte.
Hinzukommt jetzt ein breites Therapieangebot für Patienten aus der Umgebung, die ein- bis zweimal in der Woche hierherkommen, um sich behandeln zu lassen. Da sind die Kinder von Familien, die direkt vom Massaker betroffen sind, Angehörige von Reservisten und Zaka-Mitarbeitern, die im Notfall zur Stelle sind, um Erste Hilfe zu leisten oder aber auch die Leichenteile einzusammeln.
[…] niemand hatte es je mit Patient:innen zu tun gehabt,
die – wie die zuletzt freigekommenen Geiseln
– fünfhundert Tage in der Hölle verbracht haben.
Das Dorf ist Teil der „Israel Trauma Coalition“. Diese wurde 2001 mit dem Ziel gegründet, auf Krisenfälle vorzubereiten, um im Ernstfall angemessen reagieren zu können und auch danach für Betreuung zu sorgen. Zu den Patienten, die in der Regel 15 Wochen lang hierherkommen, um mit Therapeuten zu malen, musizieren, reiten, gärtnern oder zu kochen, zählen immer neue Gruppen. 200 Kinder mit posttraumatischen Belastungsstörungen wurden seither behandelt.
Dazu gehört ein fünfjähriges Kind aus Ofakim, das sich alle fünf Minuten versichert, ob seine Mutter noch da sei, erzählt Rachel, die in der Therapie versucht, die Verlustängste anzugehen. Ein Mädchen mit Autismus habe nach dem 7. Oktober komplett aufgehört zu sprechen. „Mithilfe eines Kaninchens ging es dann langsam wieder.“ Andere weitverbreitete Symptome sind Bettnässen, Schlafstörungen, das Aufschrecken bei jedem Lastwagen, der auf der Straße vorbeifährt.
Bis zum Reha-Krankenhaus sind es nur ein paar Schritte. Dort behandelt werden vor allem Soldaten. Sie können von der Hydrotherapie profitieren, oder auf besonderen Geräten bestimmte Bewegungsabläufe wieder trainieren.
In dieser Oase werden seit 2005 junge
Menschen mit schweren Behinderungen
rund um die Uhr betreut. Gegründet
wurde das Dorf von Doron Almog, […].
Es ist nur ein kleiner Teil, der hier behandelt werden kann. Nach Angaben der Reha-Abteilung des Verteidigungsministeriums bezifferte sich die Zahl der verwundeten Soldaten im vorigen November auf 12.000. 51 Prozent sind zwischen 18 und 30 Jahre alt, 43 Prozent haben seither zusätzlich psychologische Symptome entwickelt.
In einer Sporthalle des Reha-Zentrums spielen gerade vier junge Männer Basketball. Sie flitzen in Rollstühlen herum, ihnen allen fehlen die Beine komplett. „Das ist eine andere Art von Krieg“, sagt Dina Rachamim. Mehr als 2.000 Soldaten wurden seit dem 7. Oktober amputiert, Stand Januar 2025. Das Weiterleben bleibt eine riesige Herausforderung. Mit solchen Wunden zurechtzukommen, bedeutet, sich eine neue Identität zuzulegen. Neben der Sporthalle sind Aufenthaltsräume, in denen Familienangehörige und Freunde sitzen. An den Wänden kleben Poster von Gefallenen und Geiseln.
In Zusammenarbeit mit der Ben-Gurion-Universität werden hier in der Klinik individuelle Prothesen erarbeitet. Die vielen Erfahrungen, die man sammelt, sollen auf diese Weise auch der Forschung zugutekommen. Dazu gehören auch translationale Labore, in denen erarbeitet wird, wann und wie Therapien am meisten Sinn machen.
Israelische Ärzt:innen sind nun auch hier Vorreiter:innen. Denn niemand hatte es je mit Patient:innen zu tun gehabt, die – wie die zuletzt freigekommenen Geiseln – fünfhundert Tage in der Hölle verbracht haben. Noch immer sind 59 dort, von denen noch die Hälfte am Leben sein soll.