Elfriede Jelinek ist 75 und kein bisschen leise

Das Theater in der Josefstadt feiert die Jubilarin mit dem bedrückenden Stück über das Massaker von Rechnitz im Jahr 1945. Sona MacDonald wartet auf den baldigen Einsatz als Gräfin Batthyány.

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Elfriede Jelineks Rechnitz: „Wir haben es erarbeitet wie ein Maler, der zurücktritt, um das Werk besser sehen zu können“, erzählt Schauspielerin Sona MacDonald. © Philine Hofmann

Vielleicht erträgt es mich jetzt, es hat so viele nicht ertragen. Ich wiege nicht viel, komme ohne meine toten Verwandten. Bitte ertrage mich jetzt, mein liebes Land“, heißt es in der Schlüsselsätze von „Rechnitz (Der Würgeengel)“ von Elfriede Jelinek. Vor wenigen Wochen feierte die österreichische Literaturnobelpreisträgerin ihren 75. Geburtstag.
Aus diesem Anlass programmierte das Theater in der Josefstadt zwei Stücke der Autorin, die nicht unterschiedlicher sein könnten: Jelineks Fassung von Oscar Wildes Der ideale Mann, eine brillante und pointenreiche Gesellschaftskomödie, in der sich alles um das wechselvolle Verhältnis von Politik und Moral dreht. Und das aufwühlende Stück Rechnitz (Der Würgeengel), ein sprachgewaltiger und eindringlicher Text über kollektives Verschweigen und Verdrängen in Österreich nach 1945. Beide Projekte sind fertig geprobt und sollten Ende November, Anfang Dezember 2021 zur Aufführung gelangen. Aufgrund der Covid-19-Bestimmungen wird es im Falle von Rechnitz nun Mitte Jänner 2022 werden.

Es würde den Rahmen sprengen, versuchte man hier, Elfriede Jelinek eine umfassende literarische Würdigung zuteilwerden zu lassen. Das dramatische Geburtstagsgeschenk Rechnitz des Theaters in der Josefstadt gibt aber reichlich Einblick in die gesellschaftspolitische Haltung der Dichterin. So drückte es auch die schwedische Nobelpreisakademie aus: „[…] den musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit einzigartiger sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen“. Sowohl Musikalisches wie auch Jüdisches entdeckte der Regisseur Jossi Wieler bei der Uraufführung des Stückes 2008 an den Münchner Kammerspielen: „Ihre Texte sind wie musikalische Partituren. Man muss in sie hineinhören, um den Klang der Leichtigkeit und Ironie dahinter freizulegen. Und so virtuos sie auf der Klaviatur der deutschen Sprache spielt, so lässt sie sie auch immer wieder fremd klingen“, erzählt er. „Vielleicht rührt dies von ihren jüdischen Wurzeln her. Sie verbindet so viel, was unsere Geschichte ausmacht, ein Geschichtsbewusstsein der abendländischen und jüdischen Kultur.“

„Diese falsche und verlogene Unschuldigkeit Österreichs ist wirklich
immer mein Thema gewesen, eigentlich in allen meinen Sachen.
Ja,
ich würde sagen, das ist mein Angelpunkt.“
(Elfriede Jelinek)

Diesem Credo ist Jelinek auch in Rechnitz (Der Würgeengel) treu geblieben: In diesem erschütternden Drama geht es um die Nacht zum Palmsonntag 1945 – kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee: Da fand auf dem Schloss der Gräfin Margit Batthyány im burgenländischen Rechnitz ein Gefolgschaftsfest der lokalen NSProminenz statt. Zeitgleich wurden 180 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter in der Nähe des Schlosses erschossen – angeblich unter Beteiligung der Festgäste. Bis heute konnten die Ereignisse dieser Nacht nicht vollständig geklärt werden. (Siehe Kasten zum Kreuzstadl Rechnitz)

Elfriede Jelinek baut ihr Stück über das Massaker so auf, dass acht verschiedene Boten Widersprüchliches berichten, aber alle immer wieder darauf hinweisen, dass man doch nichts gesehen habe.

„Es können nicht alle Opfer sein!, jemand muß
auch Täter sein wollen, bitte melden Sie sich, wir
brauchen jeden Täter, den wir kriegen können,
denn dann können wir uns selbst dazurechnen,
ohne daß man es merkt, wir brauchen dringend
Täter, zu denen auch wir gehören könnten, wenn
wir uns etwas mehr Mühe gäben.“
»Aus „Rechnitz
(Der Würgeengel)«

Des Vaters jüdische Familie. Elfriede Jelinek wurde 1946 in Mürzzuschlag geboren. Ihre Mutter Olga stammte aus einer Wiener gutbürgerlichen Familie. Ihr jüdischer Vater Friedrich Jelinek hatte seine familiären Wurzeln in der Tschechoslowakei und absolvierte sein Chemiestudium an der Technischen Hochschule in Wien. Wie Elfriede Jelinek in einem Beitrag für das Jüdische Echo im Jahr 2001 schrieb, fand sie einen Brief zu seiner Zwangspensionierung im Juli 1939: „[…] für den Reichskommissar: ein Dr. Wächter e.h., und das Schreiben ist gütig hingeneigt zu meinem lieben Papa, dem Herrn Friedrich Jelinek, Vize-Insp. d. städt. E-Werke (keine Ahnung, daß er das je gewesen ist, ein Beamter halt, mit Pensionsberechtigung) und das Schreiben sagt, daß mein Papa auf Grund des §3Abs.1 der Verordnung zur Neuordnung des österr. Berufsbeamtentums vom 31.5., RGBL.I, S. 607, mit Ende des Monates Juli 1939 in den Ruhestand versetzt wird. Ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung steht Ihnen nicht zu, steht hier.“

SONA MACDONALD in Wien geboren, machte ihre Ausbildung in London, den USA und in Wien. Sie debütierte an der Freien Volksbühne Berlin als Cecily in Peter Zadeks Inszenierung von Bunbury. Danach folgten Engagements am Schillertheater Berlin, am Bayerischen Staatstheater München und am Theater in der Josefstadt. Sie wirkte in zahlreichen Musicals mit und war mit musikalischen Abenden auf Tourneen in Europa und den USA (z. B. Die sieben Todsünden – Kurt Weill-Abend oder American Rhapsody). Zuletzt gastierte sie am Burgtheater als Marlene Dietrich in Spatz und Engel. Auch in Film und Fernsehen kann man die Allrounderin sehen. 2016 erhielt sie den Nestroy-Preis als „Beste Schauspielerin“. Mit großem Engagement setzt sich Sona MacDonald für die Erinnerung an vertriebene jüdische Literaten und Schriftstellerinnen ein. 2022 spielt sie die jüdische Emigrantin Rosa in Tom Stoppards Leopoldstadt. © Reinhard Engel

Es ist unbekannt, ob die Tochter je zu dem Unterzeichner des Briefes recherchiert hat. Jedenfalls handelt es sich bei Otto Wächter um jenen Juristen und SSFührer, der während des Zweiten Weltkriegs im besetzten Polen als Gouverneur des Distrikts Krakau (1939–1942) und des Distrikts Galizien (1942–1944) brutale Verbrechen beging. Der jüdisch-britische Wissenschafter Philippe Sands veröffentlichte in dem Buch Die Rattenlinie – ein Nazi auf der Flucht (S. Fischer Verlag 2020) auch das abenteuerliche Ende des nach 1945 gesuchten Massenmörders: Mit Hilfe des Vatikans, unter dem Schutz des Bischofs Hudal, sollte er sich nach Argentinien absetzen, er verstarb jedoch 1949 überraschend an einer ungeklärten Vergiftung.

Elfriede Jelinek litt unter dem schwierigen Verhältnis zu ihrer Mutter, die sie von frühester Kindheit zum Ballett- und Musikunterricht zwang, unter anderem Klavier, Gitarre, Blockflöte, Geige und Bratsche. Dieses Trauma versuchte sie 1983 in ihrem Roman Die Klavierspielerin zu verarbeiten. 1964 bestand sie die Matura und erlitt im gleichen Jahr einen psychischen Zusammenbruch. Sie schrieb erste Gedichte sowie Kompositionen und inskribierte Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Wien. Nach einigen Semestern brach Jelinek dieses Studium ab, absolvierte aber 1971 das Orgelstudium am Wiener Konservatorium. Kurz darauf lebte sie mit dem Schriftsteller Gert Loschütz in Berlin und Rom; 1974 kam sie nach Wien zurück, wo sie der KPÖ beitrat und bis 1991 Mitglied war. Jelinek heiratete Gottfried Hüngsberg, der dem Kreis um Rainer Werner Fassbinder angehörte und als Informatiker in München arbeitete. Im Jahr 1975 erschien der Roman Die Liebhaberinnen, mit dem ihr der literarische Durchbruch gelang.

Sona MacDonald: „Erst am Ende
erfolgt meine Entlarvung dieser Frau, ich
entblöße mich als Gräfin und werde zurironischen Sprecherin.“

 

Schon früh wurde der Vater zur emotionalen Bezugsperson. Als Chemiker bewahrte ihn sein „kriegsdienlicher“ Beruf vor der Verfolgung durch das NS-Regime, er bekam einen Arbeitsplatz in der Rüstungsindustrie zugewiesen. Friedrich Jelinek war psychisch labil und starb 1969 in einer psychiatrischen Anstalt. Damals, mit 23 Jahren, begann Jelinek obsessiv zu lesen und zu schreiben. „Ich hätte mir gewünscht, leben zu können, rausgehen, wenn ich Lust habe“, sagte sie der Literaturkritikerin Sigrid Löffler einmal in einem Interview. „Aber die Angst, von Menschen angeschaut zu werden, war größer. Ich habe mir den Subjekt-Status des Schreibens durch einen völligen Rückzug erkaufen müssen. Ich konnte nicht beides haben, Leben und Schreiben.“ Jelinek drückt sich exzessiv und wortgewaltig aus, oft gleichen ihre sarkastischen Textflächen bösen Litaneien – und die kennt sie besonders gut von der ungeliebten katholischen Klosterschule.

Doch ganz andere Töne schlägt Jelinek in den persönlichen Textsammlungen auf ihrer Website an, die man leider nicht zitieren darf.
Respektvoll und mitfühlend würdigt sie die teils ermordeten und verstorbenen jüdischen Familienmitglieder ihres Vaters mit den schönen Namen Felsenburg, Gottlieb und Duschak. Sie veröffentlicht unter anderem das Schwarz-weiß-Foto einer Hochzeit in der Wiener Synagoge. Oh’ mein Papa lautet der Titel ihrer Hommage an den früh verlorenen Vater.
Aber das Politische überwiegt auch in dieser Zusammenstellung, denn vieles ist ihr verhasst: vor allem das rechtskonservative Österreich, das seine NS-Vergangenheit nicht aufgearbeitet hat. Daher hatte Jelinek zuerst eine Aufführung von Rechnitz (Der Würgeengel) in Österreich verboten. Die österreichische Erstaufführung fand 2012 am Schauspielhaus Graz statt, 2016 war eine Inszenierung am Wiener Volkstheater zu sehen.

„Sie verbindet so viel, was unsere Geschichte ausmacht,
ein Geschichtsbewusstsein der abendländischen
und jüdischen Kultur.“

Jossi Wieler

 

Die Hauptrolle der Gräfin Margit Batthyány in der Produktion am Theater in der Josefstadt spielt die gebürtige Wienerin Sona MacDonald, die einen amerikanischen Vater hat. Sie verkörperte an diesem Theater zahlreiche dramatische Rollen, zuletzt in Tschechows Kirschgarten.

Aber wie geht es ihr mit der Rolle dieser uneinsichtigen Duldnerin des brutalen Massakers? „Am Beginn hatte ich Phasen des großen Unbehagens, im Sinne von, wie erträgt man diese Emotionen, wie taucht man da ein, um sich das überhaupt vorzustellen. Mit Hilfe der Regisseurin Anna Bergmann schafften wir eine gesunde kreative Distanz: Wir haben es erarbeitet wie ein Maler, der zurücktritt, um das Werk besser sehen zu können“, erläutert MacDonald. Sie empfindet die Sprache Jelineks als „ein fantastisches Korsett“, das einem den nötigen Halt und die Haltung gibt.

„Wir fangen mit dem Fest 1945 an, dann hören wir die Beschreibung der Dienstboten und reisen mit den verschiedenen Figuren bis in die 1980er-Jahre. Es geht auch in ein Häuschen, irgendwo in Österreich, wo sich die Leute genauso unterhalten wie damals und auch einen Politiker wählen würden, den wir verabscheuen. Und das dramatische Geschehen reicht bis zu den Nachgeborenen, die es auch nicht wissen wollen“, erzählt die vielseitige Künstlerin.

Und was sagt uns dieses Drama heute? „Dass dieses Wegschauen ein Ende nehmen muss, weil sich vor unseren Augen alles wiederholt, dieses entsetzliche Gedankengut und die Engstirnigkeit“, ist sich Sona MacDonald sicher und fügt hinzu: „Im Zuge meiner Arbeit habe ich das Elfriede-Jelinek-Forschungszentrum an der Universität Wien aufgesucht. Wissen Sie, wie die Adresse lautet: Batthyánystiege, Hofburg. Das kann man nicht erfinden, oder?“Die Gräfin ist die ganze Zeit auf der Bühne, eine Art Botschafterin Jelineks: „Erst am Ende erfolgt meine Entlarvung dieser Frau, ich entblöße mich als Gräfin und werde zur ironischen Sprecherin.“

 

„Indem man diese Sünden der Väter und Großväter gebetsmühlenhaft immer wieder hervorholt, ohne ihnen wirklich analytisch auf den Grund gehen zu wollen oder ihr Fortwirken in der Gegenwart zu untersuchen, deckt man Geschichte zu, statt ihr die Kleider vom Leib zu reißen. Indem man sich also letztlich geschichtslos und mythologisierend, also sie mit vielen Worten bloß verhüllend, diesen Verbrechen stellt, kann man nicht wirklich die historische Wahrheit für diejenigen, die nichts mehr darüber wissen, auch emotional nachvollziehbar machen. Dann erschöpft es sich in bloßem Gerede. Dieses Gerede versuche ich zu demaskieren.“
(Elfriede Jelinek)

 


 

© Reinhard Engel

DER KREUZSTADL RECHNITZ
Wegen seines kreuzförmigen Grundrisses nannte man den ehemaligen Meierhof des Gutes Batthyány im Bezirk Oberwart (Burgenland) Kreuzstadl. Heute nur mehr als Ruine erhalten, dient er als Mahnmal für das Massaker.

Kurz vor Kriegsende, am 24. März 1945, wurden an die eintausend ungarische Juden von Köszeg/Güns (Ungarn) nach Burg (Burgenland) transportiert, wo sie beim „Südostwallbau“ als Zwangsarbeiter eingesetzt werden sollten. 200 der deportierten, völlig erschöpften Menschen wurden jedoch wieder zum Bahnhof Rechnitz rückgeleitet, da sie für den Arbeitseinsatz zu krank oder körperlich zu schwach waren. Am Abend desselben Tages fand im Schloss Batthyány ein Kameradschaftsfest statt. Zu den Festgästen zählten die „zuverlässigsten Getreuen des nationalsozialistischen Systems“, unter anderen Franz Podezin, Ortsgruppenleiter von Rechnitz, seine Sekretärin Hildegard Stadler sowie Funktionäre der Kreisleitung Oberwart. Ebenfalls anwesend waren Graf und Gräfin Batthyány, die ihr Schloss für das Fest zur Verfügung gestellt hatten, und deren Gutsverwalter. In der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 wurden ungefähr 180 der ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter (eine genaue Zahl ist nicht bekannt) von Franz Podezin und ungefähr neun weiteren Festgästen ermordet. Laut Beweisverfahren des Volksgerichtsprozesses 1948 verscharrten Ludwig Groll und eine zweite Person die Ermordeten notdürftig. Am folgenden Tag mussten die überlebenden jüdischen Zwangsarbeiter die Toten begraben; noch am selben Abend wurden auch sie erschossen. Nach Kriegsende wurden drei Gerichtsverfahren gegen insgesamt 18 Personen durchgeführt: Der erste Prozess führte zu vier Verurteilungen und zwei Freisprüchen. Im zweiten Verfahren wurde der ehemalige Kreisleiter von Oberwart, Eduard Nicka, verurteilt, jedoch nicht wegen des Massakers von Rechnitz, sondern wegen seiner illegalen Zugehörigkeit zur NSDAP vor dem 13. März 1938. in In den 1960er-Jahren wurde das letzte Verfahren eingestellt, da die Beweise für eine Anklage nicht ausreichend waren.

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