Erinnerung an einen Gerechten

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António Moncada Sousa Mendes beim Interview im damals noch verwahrlosten Gebäude der „Casa do Passal“, 2015. © Gerald Gottlieb

Zehn Jahre hat es gedauert, jetzt ist es endlich soweit: Am 19. Juli – dem 139. Geburtstag des Konsuls – eröffnet das „Museu Aristides de Sousa Mendes“. Es erzählt die Geschichte des ungehorsamen Konsuls von Bordeaux, der sich dem Befehl des damaligen portugiesischen Diktators António de Oliveira Salazar widersetzte und „jedem, der eines brauchte“ – so formulierte er es in seiner Verteidigungsschrift – ein Transfervisum für Portugal ausstellte. Mehrere Tage arbeitete Sousa Mendes mit seinem Team bis zur völligen Erschöpfung. Dann wurde er abberufen, kehrte nach Lissabon zurück, wurde geächtet und starb verarmt vor 70 Jahren, im April 1954. Yad Vashem ehrte Aristides de Sousa Mendes im Jahr 1966 als Gerechten unter den Völkern. Die Anerkennung in seinem Heimatland ließ hingegen auf sich warten: Erst vor drei Jahren wurde eine Gedenktafel im „Panteão Nacional“ in Lissabon angebracht, wo nicht nur einige portugiesische Könige beerdigt sind, sondern auch zahlreicher Helden des Landes gedacht wird.

Als ich im Jahr 2014 das erste Mal nach Cabanas de Viriato – einen 1.700-SeelenOrt im Landesinneren zwischen der Universitätsstadt Coimbra und der Hafenstadt Porto – reiste, um Interviews für eine Radiosendung über das Leben des Konsuls aufzunehmen, befand sich das ehemalige Wohnhaus der Familie Sousa Mendes in einem bedauernswerten Zustand. Das Dach war eingefallen, der Innenraum einsturzgefährdet, der Garten verwildert. Doch bei meinen Gesprächen keimte eine leise Hoffnung, dass das schmale, hohe Gebäude doch noch eine Zukunft haben könnte. Ein Jahr später, im April 2015, kehrte ich mit einem Kamerateam zurück, wir drehten eine Fernsehdokumentation. Das Wiedersehen war beglückend: Die Fassade des Hauses war bereits frisch gestrichen, das Dach endlich dicht, im Inneren wurden Wände und Decken abgestützt. Wir filmten ein sehr emotionales Interview mit António de Moncada Sousa Mendes, dem Enkelsohn des Konsuls, vor der ehemals prunkvollen Holzstiege im zentralen Eingangsbereich. Die Fenster waren zugenagelt, wir stellten ein paar Lampen auf, um die Szenerie zu beleuchten. Auch im weitläufigen Garten wurde gedreht, ein Interview nahmen wir im kniehohen Gras stehend auf, bei über 30 Grad Celsius – harte Arbeit für mein Team und den schwitzenden Interviewpartner Luis Fidalgo von der Sousa-Mendes-Stiftung.

Autorin Uli Jürgens und Kameramann Gerald Gottlieb bei Dreharbeiten in Cabanas de Viriato, 2015. © Volkmar Geiblinger

Seither tat sich in Sachen Restaurierung erstmal wenig. Es gab viele Fragen, aber kaum Antworten. Wer sollte die Restaurierung bezahlen? Wer wäre verantwortlich für die Neugestaltung? Und was sollte in diesem Haus, in diesem Ort fernab jeder touristischen Trampelpfade überhaupt passieren? Wer würde das Museum besuchen? Es ist zahlreichen Personen zu verdanken, dass das Haus „Casa do Passal“ noch steht. Enkelsohn António engagiert sich sehr und erzählt, wo immer er hinkommt, die Geschichte seines Großvaters. Zwei Stiftungen kümmern sich um das Andenken, eine portugiesische und eine US-amerikanische. Und schließlich begannen im August 2022, als kaum jemand mehr damit rechnete, die Umbauarbeiten für das neue Museum, Kostenpunkt 1,8 Millionen Euro. In einem kurzen Video, das die Bezirksverwaltung „Câmera Municipal de Carregal do Sal“, in deren Einzugsgebiet sich der Ort Cabanas de Viriato befindet, auf Facebook gepostet hat, ist der Wandel des Hauses zu verfolgen. Das heruntergekommene Gebäude wurde teilweise entkernt, es entstanden Räume für Ausstellungen und Studienzwecke. Die alten bunten Glasfenster wurden durch neue ersetzt, die Holzstiege sanft renoviert.

Ein offenes Haus der Humanität. „Casa do Passal“, das nun seine Tore als Haus der Erinnerung für ein interessiertes Publikum öffnet, hat schon viel erlebt. Ende des 19. Jahrhunderts erbaut, galt es immer als Zufluchtsort für die Familie Sousa Mendes. An klaren Tagen sieht man bis zur „Serra da Estrela“, dem höchsten Gebirge Portugals, dessen Gipfel im Winter manchmal schneebedeckt sind. Ein Kreuz an der Straßenecke und eine Christusstatue im Garten weisen noch heute auf die katholischen Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses hin. Aristides wuchs gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder César auf, beide studierten Rechtswissenschaften an der Universität Coimbra.

Donnerstag war stets der Tag der Armen:
[…] Hausherrin Angelina verteilte mit ihren Angestellten
Essensrationen an die Menschen.

Auch der weitere Weg der Brüder verlief zunächst parallel, beide wurden Diplomaten. Doch César zog es in die Politik, Aristides in die Administration, 1910 trat er seine erste Stelle als Konsul zweiter Klasse in British Guayana an. Zu dieser Zeit war er bereits mit Angelina verheiratet und Vater eines Sohnes. Im Laufe seines Lebens wurden es 14 Kinder, die das Paar gemeinsam großzog. „Casa do Passal“ fungierte immer wieder als Rückzugsort, in den Ferien versammelte sich die Familie dort, es gab Gartenfeste und Musikabende, denen die Bewohner des Ortes von der Straße her lauschten. Der Donnerstag war stets der Tag der Armen: Die Küchentür stand offen, sodass sich Bedürftige aufwärmen konnten, und Hausherrin Angelina verteilte mit ihren Angestellten Essensrationen an die Menschen.

Dreharbeiten zu einer Fernsehdoku über Sousa Mendes, 2015. © Volkmar Geiblinger

Auch Aristides hatte ein großes Herz. Das zeigte sich vor allem während seiner Amtszeit im französischen Bordeaux, wohin er Ende September 1939 versetzt wurde. Die Fluchtbewegung jüdischer und politisch verfolgter Menschen vor den Nationalsozialisten hatte bereits voll eingesetzt. Mitte November erließ der portugiesische Diktator Salazar ein Dekret namens Circular 14, das die Einreisevorschriften für Ausländer verschärfte. Am 21. November widersetzte sich Aristides de Sousa Mendes das erste Mal diesem Gesetz: Er stellte dem jüdischen Universitätsprofessor Arnold Wiznitzer aus Wien, dessen Frau und dem 14-jährigen Sohn Visa für Portugal aus, telegrafierte aber erst Tage später um die Genehmigung, die negativ ausfiel. Zu diesem Zeitpunkt hatte Familie Wiznitzer die Grenze schon längst überschritten und war in Sicherheit. Als die Nationalsozialisten in Paris einmarschierten und immer weiter nach Süden vorrückten, schoben sie hunderttausende Flüchtlinge vor sich her. Viele von ihnen überlebten dank Aristides de Sousa Mendes, der ab dem 16. Juni 1940 knapp eine Woche lang im Akkord Visa ausstellte.

„[…] einen Ort der Erinnerung, der endlich Realität wird.“
Bürgermeister Paulo Catalino

In einem für seine große Familie umgebauten Auto brachte er sogar selbst zahlreiche Flüchtlinge an einen kleinen Grenzübergang nahe Bayonne. Insgesamt soll er zwischen 10.000 und 30.000 Menschen bei der Flucht geholfen haben. Am 4. Juli 1940 wurde der ungehorsame Konsul nach Lissabon zurückbeordert. Seine diplomatische Karriere war zu Ende.

Fotos der Familie Sousa aus dem Archiv von Antónia Sousa Mendes. © Gerald Gottlieb

Berührende Erinnerungen. All das wird im neuen Museum im ehemaligen Familiensitz „Casa do Passal“ zum Thema gemacht. Kuratorin Claudia Sofia Ninhos konzipierte die Ausstellungsräume: Sousa Mendes’ berufliche Stationen sind zu entdecken, viele Fotografien geben Einblicke in das Familienleben, Dokumente erzählen vom Ungehorsam des Konsuls gegenüber dem Diktator. „Es war tatsächlich mein Ziel, all jene Menschen zu retten“, ist in einer von Sousa Mendes’ Verteidigungsschriften zu lesen. Im Haus soll es aber auch Angebote für Schulklassen und Studierende geben, so die Kuratorin. Ein Raum, der ihr besonders am Herzen liegt, ist den Geschichten der Flüchtlinge gewidmet. Claudia Sofia Ninhos kontaktierte Nachfahren und erhielt berührende Erinnerungsstücke: einen gelben Judenstern und den von Sousa Mendes gestempelten Pass von Eugenia Rozenfeld; einen grünen Koffer, in dem die Tochter von Jacob Lotenberg Hinweise auf das verschwiegene Leben des Vaters entdeckte. „Wir wollen das Leben feiern, und mit großer Zufriedenheit und Verantwortung nehmen wir die Eröffnung der Casa do Passal in Angriff, einen Ort der Erinnerung, der endlich Realität wird“, sagte Bürgermeister Paulo Catalino bei einer Präsentation der Museumspläne Mitte April. Auch kulturelle Veranstaltungen sind geplant. Bereits am Eröffnungstag spielt ein Orchester im Garten des Hauses, dem die Bewohner des Ortes auch von der Straße aus lauschen können. Ganz wie damals, als die Großfamilie Sousa Mendes hier bei weit geöffneten Fenstern musizierte. Ganz im Sinne des fast vergessenen gerechten Konsuls.

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