Erinnerungen im Salon

Mit jedem Gedenktag an die Opfer der Shoah werden in Israel die Fragen eindringlicher: Sind die bombastischen Zeremonien noch zeitgemäß? Wer wird die Erinnerung weitertragen, wenn auch die letzten Überlebenden nicht mehr unter uns sind? Wie wird ein Holocaust-Gedenktag in zehn Jahren aussehen? Das Projekt Zikaron BaSalon zeigt eine alternative Art des Erinnerns auf.

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Living Room Memories wurden zu einem Projekt des gemeinsamen Erinnerns, das mittlerweile jedes Jahr am Holocaust-Gedenktag in hunderttausenden Wohnzimmern abgehalten wird. © facebook.com/ZikaronBaSalonEN/

„Das erste Mal, dass ich männlicher Nacktheit ausgesetzt war, war durch Fotos von Massengräbern aus dem Holocaust, die bei einer Zeremonie anlässlich des Jom haScho’a, dem Gedenktag an die Shoah, in der Schule gezeigt wurden. Danach versuchte ich, mich möglichst von dem Thema fernzuhalten, von den traditionellen Zeremonien ebenso wie von den Übertragungen und Dokumentarfilmen im Fernsehen“, schreibt Adi Altshuler in einem israelischen Magazin.

Die heute 36-Jährige hat schon mit sechzehn ihr erstes großes Projekt für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen gegründet und ist heute eine in Israel vielfach ausgezeichnete „soziale Unternehmerin“. Sie beschreibt, wie sie sich nach diesem ersten tieferen Encounter mit den Gräueln des Holocaust schon als Jugendliche immer weiter von den Gefühlen und Erinnerungen rund um den Jom haScho’a abgrenzte. Damit wurde ihre Verbindung zu dem Thema mit der Zeit immer schwächer und der Holocaust selbst für sie ein weit entferntes geschichtliches Ereignis. Den Gedenktag selbst hätte sie am liebsten zu Hause mit Freunden bei einem guten Film verbracht, anstatt ihre Mutter zu irgendwelchen für sie schalen Zeremonien zu begleiten.

Das brachte sie schließlich auf die Idee für einen völlig neuen Zugang: „Vielleicht ist ja das Problem die Antwort“, dachte sie sich, als sie eines Abends nach so einer Zeremonie am Weg nach Hause zu den vielen beleuchteten Wohnzimmerfenstern jener Israelis hinaufschaute, die zu Hause geblieben waren. „Vielleicht brauche ich keine Zeremonie, sondern nur ein Wohnzimmer – wenn ich den Abend bei einem intimen Zusammenkommen verbracht hätte, anstatt mich bei der Zeremonie zu langweilen, wenn ich, statt der sechs Millionen zu gedenken, nur eine einzige Geschichte gehört hätte, und wenn es dann zu einem Dialog gekommen wäre – vielleicht hätte ich dann meine persönliche Erinnerung und Verbindung gefunden.“

© facebook.com/ZikaronBaSalonEN/

Im Jahr darauf luden Altshuler und ihr Partner zehn ihrer Freunde zu einem Abend, den sie Living Room Memories, „Erinnerung im Wohnzimmer“, betitelten. Statt zehn kamen 50 Leute, viele von ihnen den Gastgebern völlig unbekannt. In einem privaten Moment gestand die als Zeitzeugin eingeladene ältere Dame, wie erleichtert sie darüber wäre, nicht auf einer großen Bühne sprechen zu müssen. Ihre Erzählung war mitreißend und authentisch. Zwei Freunde hatten zur Auflockerung einige Songs auf der Gitarre vorbereit, es gab zahlreiche Fragen an die Erzählerin, und die Gastgeber leiteten eine Diskussion, die mit der Frage begann: Warum ist es wichtig zu gedenken?

 

„Jetzt sind wir möglicherweise in einer neuen Phase
des
Erinnerns angekommen.“

Adi Altshuler

 

Mit dieser vor etwa zehn Jahren gestarteten Initiative Living Room Memories, auf Hebräisch Zikaron BaSalon, scheint die Unternehmerin einen Nerv der Zeit getroffen zu haben. Im folgenden Jahr öffneten viele von Altshulers Gästen ihre eigenen Wohnzimmer für ähnliche Zusammenkünfte. Erinnerungen im Wohnzimmer wurde zu einem Projekt des gemeinsamen Erinnerns in privatem Rahmen, das mittlerweile jedes Jahr am Holocaust-Gedenktag im In- und Ausland in hunderttausenden Wohnzimmern, Parks oder städtischen Kulturzentren sowie auch virtuell abgehalten wird. 2018 gab es insgesamt über 750.000 solcher „Salons“ in Israel und in weiteren 50 Ländern. Dabei geht es der Initiatorin um die persönlichen Geschichten von Überlebenden und um den Dialog, der im Anschluss an deren Erzählung entsteht. Und es geht auch darum, dass jeder selbst die Verantwortung für das Erinnern übernehmen kann und sozusagen die Fackel weiterträgt.

Dieses Jahr fanden die Zusammenkünfte erstmals nach den Corona-Beschränkungen wieder live statt und in größerem Umfang als je zuvor. Da leider die Zeitzeugen immer weniger werden, geben mittlerweile auch Betroffene der sogenannten „Zweiten Generation“ weiter, was sie von der Geschichte ihrer Eltern und ihrer Familie wissen. Das Event kann aber auch rund um eine Videoaufnahme oder einen Film geführt werden. Unter vielen anderen lud diesmal auch Präsident Herzog in den Salon der Residenz. Dort erzählte die ursprünglich aus Thessaloniki stammende Zeitzeugin Ines Nissim von ihrer einst idyllischen Heimatgemeinde, die vor dem Holocaust ein kulturelles jüdisches Zentrum gewesen war. Sie berichtete von den Schrecknissen nach der Invasion der Nazis und davon, wie sie selbst doch noch gerettet wurde.

© facebook.com/ZikaronBaSalonEN/

Zikaron BaSalon ist ein Begriff geworden – jeder dieser Salons hat seine Story, manchmal auch eine, die nicht dem gängigen Holocaust-Narrativ entspricht, wie etwa die Schicksale der Überlebenden aus der Sowjetunion oder aus Nordafrika. Da gibt es Erzählungen von Menschen, die als Babys oder Kleinkinder überlebt haben, und es ist auch Platz für die übernommenen Erinnerungen und Gefühle der zweiten und dritten Generation. Jeder, der zu so einem Salon lädt, bekommt Unterstützung und Anleitung von den Organisatoren, die meist auch die Verbindung zu einer Zeitzeugin oder einem Zeitzeugen herstellen.

Altshuler verweist darauf, wie sich in Israel die Einstellung zum Holocaust im Laufe der Jahrzehnte verändert hat. Ganz am Anfang gab es da nur ein großes Schweigen. Erst mit dem EichmannProzess in den 1950er-Jahren entstand eine Kultur des Nachforschens und Erinnerns. Yad Vashem, Israels offizielle Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust, wurde gegründet und der nationale Gedenktag etabliert.

© facebook.com/ZikaronBaSalonEN/

Man begann in Israel die Wichtigkeit der Aufarbeitung und Weitergabe der Geschichte dieser schrecklichen Epoche zu verstehen. Seit damals wird die Shoah oft schon in den Kindergärten erklärt und in den Schulen unterrichtet. Und auch die Reisen der Schüler nach Polen sind zur fixen Tradition geworden. In den 1980er-Jahren kam dann auch die „Second Generation“ immer mehr zu Wort, und es entstand mehr Wissen darüber, wie sehr Traumata unbewusst über Generationen weitergeleitet werden.

Jetzt sind wir, wie Altshuler meint, möglicherweise in einer neuen Phase des Erinnerns angekommen. Sie wünscht sich, dass Zikaron BaSalon ein Teil des nächsten Abschnitts dieser Evolution wird: „Dann werden die Geschichten des Holocaust weitergegeben werden wie die der Haggada zu Pessach. Und dann kann jeder von uns am Jom haSikaron die Straße entlang gehen und einfach in einen Salon eintreten für ein alternatives, persönliches und anregendes Zusammentreffen.“

Dann also bis zum nächsten Jahr in unserem Salon!

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