Eros, Thanatos und Dibbuk

Praterstraße. Jiddisches Theater. Und ein heraufbeschworener böser Geist, an den die Ereignisse der Gegenwart uns mehr und mehr erinnern. Ein Besuch von Wiens einstigem wilden Theaterboulevard.

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Folgen Sie mir in eine magische Zeit. In eine Zeit, in der sich das jüdische Selbstverständnis in einer eigenen, besonderen Kultur spiegelte!

Wir machen eine Zeitreise. Aber wir bleiben in Wien. Stellen Sie sich also vor: eine erleuchtete Straße, der Wiener Broadway. In Übersetzung: die Praterstraße. Die Orte tragen Namen wie „Intimes Theater“, „Sphinx“ und „Jüdische Künstlerspiele“ …

Stellen Sie sich diese kleinen Kellertheater und Ausgehlokale vor, in die das gehobene und auch das weniger gehobene Publikum strömt … Der Raum ist halbdunkel, roter Samt, gedimmte Lichter! Kleine Tischchen mit Kristallgläsern! Wagemutige Sängerinnen, auch in Hosenrollen, die Künstlerin Sevilla zum Beispiel – eine wunderschöne Frau. Frivole Texte, prickelnde Atmosphäre. Hier ist der Grundstein gelegt für all jenes, das nach 1938 über den großen Teich fliehen muss und später Hollywood zum Blühen bringt. Hier, hier beginnt es! Denn damals stand diese Theaterszene in voller Blüte, man spielte nicht nur Kleinkunst. Da gab es auch ein ernsthaftes, ein großes Theater, später, als es prekärer wurde, auch noch politisches Kabarett mit bissigen Texten. Wir glauben doch immer, mit unserem Hohnlachen, mit unseren Witzen das Schreckliche verhindern zu können, und wissen doch – es lässt sich nicht verhindern. Aber wenigstens ist man diesem Unverhinderbaren mit einem Lachen auf den Lippen entgegengetreten. Eine weitere Spezialität dieses Ortes: Hier wurde auf Jiddisch aufgeführt! Eine totale Spezialität, etwas ganz anderes als all die anderen Theater. Erotische Texte, freche Musik und Halbdunkel gab es zu jener Zeit in ganz Wien! Aber auf Jiddisch: Das war etwas ganz, ganz Besonderes. Und das nicht nur als Kabarett, nicht nur als Geplänkel. Auch richtig große Stücke, Stefan Zweig, zum Beispiel, wurde auf Jiddisch übersetzt und gespielt, und sogar Shakespeares Hamlet. Auch Der Dibbuk wurde hier aufgeführt, eine einzigartige Geschichte rund um einen bösen beschworenen Geist und unglückliche junge Liebe. Zwei junge Hauptdarsteller am Theater Nestroyhof. Wunderschöne Räume. Berühmtes Ensemble. Avantgarde pur.

Sie verlieben sich während der Proben zum Dibbuk. Sie, Mädchen aus bestem Wiener Haus, spielt die reiche Kaufmannstochter Lea. Er: ein Zugezogener aus Galizien. Die große Hoffnung seiner Familie, die sich in Wien mehr schlecht als recht durchschlägt, spielt spiegelgleich den armen, ebenso hoffnungsfrohen Chanaan. Die Geschichte der beiden Hauptdarstellenden ist verglichen mit dem Stück an Tragik leider auch nicht ärmer: Die junge Frau schafft es nach der Nazimachtergreifung zu fliehen und macht in Amerika als Balletttänzerin Karriere. Der junge Mann, der ihren Bräutigam spielt, schafft es nicht zu entkommen.

Die Vergangenheit schmerzt und wuchert zu, manche Wunden werden nicht heilen, andere heilen, und manches gerät unverheilt in Vergessenheit. Auch das ist ein Aspekt von Wien, von ganz Österreich. Heute ist das Theater Nestroyhof Hamakom wieder ein Haus, das sich jüdischer Geschichte und jüdischen Geschichten widmet. Vor sehr, sehr langer Zeit habe ich hier Installationen machen und mit den wiener wortstätten ein Stück aufführen dürfen, das den Dibbuk erneut in diesen Räumen bannte: ein unruhiger böser Geist in neuem Setting. Und dieser damalige Dibbuk erinnert mich heute wieder daran, wie schnell etwas überwunden Geschätztes und etwas vergessen Geglaubtes wieder heraufbeschworen werden kann, bereit, in entsprechend bereitgestellte Menschengefäße zu fahren. Es ist nicht vorbei. Aber vermutlich ist es nie vorbei. Treibt den Dibbuk aus. Ein Mal, und dann das nächste Mal.

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