KARL-MARKUS GAUSS, geb. 1954 in Salzburg, wo er auch heute lebt, ist ein zeitgenössischer Schriftsteller, Essayist, Chronist, Herausgeber und Kritiker. Gauß studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Salzburg und gibt seit 1991 die Zeitschrift Literatur und Kritik heraus. Als Literaturkritiker hat Gauß unzählige Rezensionen neuer Bücher verfasst. Der Schriftsteller, dessen rund 30 Werke in 15 Sprachen übersetzt worden sind, schreibt u. a. eine regelmäßige Kolumne für die Süddeutsche Zeitung. Gauß wurde mit zahlreichen renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet. Seine Essays sind kenntnisreiche und leidenschaftliche Plädoyers für die universalen Werte der Aufklärung. Er beschäftigt sich ebenso mit der jüdischen Geistesgeschichte wie den Versäumnissen zeitgenössischer Gedenkpolitik, intellektueller Selbstzufriedenheit und nicht zuletzt dem neuen Antisemitismus.
WINA: Soeben ist Ihre neueste Essaysammlung mit dem aussagekräftigen Titel Schuldhafte Unwissenheit – Essays wider den Zeitgeist und Judenhass im Czernin Verlag erschienen. Das erste Kapitel heißt Das umjubelte Massaker und enthält Ihre Anmerkungen zum 7. Oktober 2023 in Israel. Auch das titelgebende letzte Kapitel mit Ihren Ungeordneten Aufzeichnungen 2023/2024 befasst sich eingehend mit dem alten und neuen Judenhass. Sie gehen hart mit den intellektuellen Linken ins Gericht, vor allem mit ihrer konstanten Weigerung, die grundlegenden politischen Ziele der Hamas realistisch zu beurteilen. Löste das den Gedanken der „schuldhaften Unwissenheit“ aus?
Karl-Markus Gauß: Es hat mich überrascht und bestürzt, dass ein neuer Judenhass, in dem so viel vom alten Judenhass steckt, aufgeflammt ist. Er ist weitgehend nicht von den traditionell rassistischen Gruppen der politischen Rechten ausgegangen, sondern von Gruppierungen, denen ich mich zeitlebens selbst verbunden fühlte, die man vage als politische Linke bezeichnen könnte und zu deren Traditionen eigentlich der Antirassismus gehört. Dass der Antisemitismus dermaßen stark und kurzerhand aus dem linken Spektrum gekommen ist, was deren Protagonisten natürlich vehement abstreiten würden, weil sie sich „nur“ als Antizionisten definieren, ist mir unerträglich. Denn bereits Jean Améry konstatierte: „Im Antizionismus ist der Antisemitismus enthalten wie das Gewitter in der Wolke.“
Wie erklären Sie sich, dass dieser Hass so unmittelbar hochgeschossen ist?
I Könnte ich dafür eine Erklärung liefern, wäre ich als Prophet sehr gefragt. Jedenfalls ist die Chronologie erschreckend: Denn die Welle des Antisemitismus ist nicht erst aufgebrochen, als der israelische Gegenschlag erfolgte und erschütternde Bilder von palästinensischen Kindern und den Zerstörungen in Gaza in alle Welt übermittelt wurden, sondern tatsächlich bereits am Tag des Massakers, als der israelische Staat noch wie gelähmt war.
Sie beschäftigt diese Frage, insbesondere weil ja am 7. Oktober nur gepeinigte jüdische Opfer zu sehen waren. Ich zitiere: „Der Anblick jüdischer Opfer stachelt den Hass wie sonst nichts an, wie es nicht einmal die Luftschläge der israelischen Armee vermögen, die Wohnblocks in Schutt und Asche legen […].“ Wie kamen Sie auf diesen Gedanken?
I Ja, das ist wirklich ein furchtbarer Gedanke, aber es passt zu dem, was aus den Konzentrationslagern der Nazis berichtet wurde: Da hat der flehentliche, bittende Blick der gepeinigten Opfer nicht Mitgefühl geweckt, sondern den Hass noch weiter angestachelt. Der Antisemitismus ist nicht durch jüdisches Fehlverhalten in die Welt gekommen und wird nicht durch jüdisches Wohlverhalten daraus verschwinden. Das ist auch in dieser Situation augenscheinlich.
Und was schließen Sie daraus?
I Es ist ersichtlich, dass die antisemitische Welle – auch eine Art von Schuldabwehr – just zu dem Zeitpunkt gekommen ist, als Juden massakriert wurden: Ich behaupte, dass das nicht geschah, als man sie massakriert hat, sondern weil sie massakriert wurden.
„Sie haben recht, ich habe jetzt sehr klar
Partei bezogen, und das nahmen mir
manche sehr übel.“
Karl-Markus Gauß
Sie erwähnten, dass Sie bei dem Titel Schuldhafte Unwissenheit an ein Diktum des Philosophen Immanuel Kant gedacht haben: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Welche Analogie haben Sie daraus auf die aktuellen Ereignisse geschlossen?
I Schauen Sie sich doch die Massenkundgebungen gegen Israel an, deren Teilnehmer in der Regel empört zurückweisen, Antisemiten zu sein, während ihre vorgeblich „antizionistischen“ Argumente doch voller antisemitischer Stereotypien sind. Wenn man konkret nachfragt, stößt man auf eine fundamentale Unwissenheit. Und die ist nicht zu entschuldigen, gerade auch, weil es so leicht wäre, sie zu beseitigen. Trotz vieler Fehlinformationen, die dort zu finden sind, ermöglicht es das Internet zumal jungen Menschen, mit zwei Klicks die Gründungscharta der Hamas zu lesen. Das tun sie aber nicht, sie bleiben lieber dabei, die Hamas für eine legitime Befreiungsorganisation zu halten. Dabei könnten sie bei der Lektüre sehen, dass es der Hamas keineswegs um Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Demokratie oder die Zweistaatenlösung geht, sondern um einen islamistischen G’ttesstaat, zu dessen Errichtung als erster Schritt die Vernichtung des jüdischen Staates vonnöten ist. Der jetzt oft gehörte Slogan „From the river to the sea, Palestine will be free“ ist zur „Internationalen“ der Antisemiten geworden und drückt klar aus, dass es auf diesem Gebiet keinen jüdischen Staat geben darf. Wer diesen Slogan grölt, möchte, dass eine Auslöschungsfantasie Realität werde.

Auffallend ist, dass antisemitische Bemerkungen teils wieder salonfähig geworden sind. Sie zitieren Jean Améry*, der bereits zwischen 1969 und 1978 „seine Linken“ beschwor, mittels revolutionärer Phrasen nicht den ordinären alten zu einem neuen „ehrbaren Antisemitismus“ zu modernisieren. Sie weisen darauf hin, dass Amérys scharfsinnige Warnungen damals ignoriert wurden, Sie sehen heute „geradezu prophetische Kraft“ darin. Aber Améry hat sich auch spät zu seinem Judentum bekannt?
I In der Lebens- und Entwicklungsgeschichte vieler Juden, unter ihnen auch große Schriftsteller, hat das Judentum lange keine bedeutende Rolle gespielt, weil ihre Familien assimiliert waren und in ihnen keine religiösen Riten oder Feste mehr praktiziert wurden. In dem Moment, als Améry von den Nationalsozialisten zum Juden erklärt wurde, hat sich für ihn alles verändert. Obwohl er keinerlei spirituelle Verbindung zum Judentum hatte, sondern ihm das Judentum von außen geradezu aufgenötigt wurde, begann er sich dafür zu interessieren. Er hat vielfach einbekannt, gegen seinen Willen zum Juden erklärt, gemacht worden zu sein. Gerade deswegen aber hat er sich nun zu dem bekannt, was im Dritten Reich zum Todesurteil werden konnte, nämlich dazu, ein Jude zu sein.
„Ich finde ja, man sollte nicht nur das Richtige
denken, sondern es dann auch sagen.“
Karl-Markus Gauß
Ein prägnanter Text aus Ihrem Buch ist jüngst im Spectrum der Zeitung Die Presse veröffentlicht worden. Auch da bekennen Sie sich in aller Eindeutigkeit und Klarheit zum Staat Israel – und zwar nicht erst seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober. Salopp würde man in Wien sagen, Sie haben sich weit hinausgelehnt, denn sowohl in Österreich als auch weltweit kennen wir das berühmte „Ja, sich verteidigen, aber …“ – Wie erging es Ihnen nach dieser Veröffentlichung?
I Es erging mir anders als bei früheren Publikationen, denn da wurde ich zumeist gelobt, dass ich es verstünde, „die Dinge in selbstironischer Ambivalenz zu halten“, sie also von verschiedenen Perspektiven aus zu betrachten. Sie haben recht, ich habe jetzt sehr klar Partei bezogen, und das nahmen mir manche sehr übel.
Was genau bekamen Sie zu hören?
I Beklemmend war, dass langjährige Freunde mich sarkastisch fragten, ob mir das Leid der palästinensischen Kinder denn gleichgültig wäre, ob mir jüdisches Leben mehr gelte als palästinensisches und ob ich nicht begreifen wolle, dass die Juden weiße Kolonialisten wären, die den Palästinensern ihr Land weggenommen haben. Diese „Antizionisten“ weisen es entrüstet von sich, Antisemiten zu sein, aber sie verschwenden keinen Gedanken darauf, warum in Berlin oder Amsterdam oder Berkeley nicht nur vor israelischen Botschaften demonstriert wird, sondern vor Geschäften, die Juden gehören, die noch nie in Israel waren. Oder dass in Wien ein Gymnasialschuldirektor den Eltern seiner jüdischen Schüler empfohlen hat, diese in jüdische Schulen zu schicken, weil er für ihre Sicherheit nicht mehr garantieren könne und es nicht gut sei, „in einer Feindesklasse zu sitzen …“.
Was folgern Sie daraus?
I Das heißt, wenn es hart auf hart geht, dann ist der Zionist ein alter „Jud“ und der „Jud“ immer ein Zionist. Aber es gab auch zahlreiche ermutigende Reaktionen. Es haben sich Leserinnen und Leser, auch viele Kollegen geradezu bedankt dafür, dass ich auch für sie die Dinge so entschieden durchdacht und so klar formuliert habe. Ich finde ja, man sollte nicht nur das Richtige denken, sondern es dann auch sagen.
Ihre gesellschaftspolitische Analyse zur Rezeption und den Folgen des Hamas-Massakers vom 7. Oktober ist so scharfsinnig, emphatisch und bar jedes Fingerzeigs. Sie arbeiten sich – wie auch Gleichgesinnte – an diesen Entwicklungen schmerzvoll ab. Doch was sollen, was können wir als aufgeklärte zivile Gemeinschaft tun?

Unwissenheit. Essays wider Zeitgeist und Judenhass. Czernin 2025, 128 S., € 22
I Das klingt jetzt sehr defensiv und auch deprimierend, aber es bleibt uns nichts anderes übrig, als für das, was wir wollen und sollen, in unseren eigenen Medien, aber auch Lebensbereichen einzustehen. Wir müssen einfach Flagge zeigen, wo immer wir es mit Judenhass zu tun bekommen. Wir müssen uns zu Wort melden, ob in Büchern, im Zugabteil, im Geschäft, als Konsumenten, Passanten, und wir sind ja doch viele!
Wenn man Ihre Bücher googelt, findet man Ihre Publikationen in den Sparten Reiseberichte, Weltprosa, Sozial- und Politikwissenschaften, Künste und Belletristik. Sie haben bisher rund 30 Bücher publiziert, die sich mit Europa von der Vergangenheit bis in die Gegenwart befassen. Sie haben viele europäische Minderheiten dem Vergessen entrissen. Auch jetzt, im aktuellen Band, wo die beiden auf die heutige Situation bezogenen Texte den Rahmen bilden, fügen Sie einige bewegende Reisegeschichten in die ehemaligen StetIn in Osteuropa ein, aber vor allem auch berührende Porträts von jüdischen Menschen. Woher kommt dieses grundsätzliche Interesse am Jüdischen?
I Ich war vielleicht 25 Jahr alt, als ich beschloss, nicht das Leben und Werk von Autoren zu erforschen, über die ohnehin Legionen von Literaturwissenschaftlern und Kritikerinnen schreiben. Ich war geradezu fasziniert von vergessenen Schriftstellerinnen und totgeschwiegenen Autoren, die zwar zu Lebzeiten oft angesehen waren, aber ins Exil gejagt oder gar ermordet und deren Werken nie mehr „zurückgeholt“ wurden. Nach einigen Jahren erst bemerkte ich, dass vielleicht drei Viertel dieser Schriftsteller und Schriftstellerinnen jüdischer Herkunft waren und durch den kulturellen Kahlschlag des Nationalsozialismus nicht nur aus ihrer Heimat, sondern auch aus der Literaturgeschichte vertrieben worden waren. Ich hatte den Ehrgeiz, mich mit solchen Autoren zu beschäftigen, Unbekanntes zu erforschen, an der Edition ihrer Werke mitzuwirken. Und es freute mich, dass ich so an der Wiederentdeckung mancher Autoren wie Theodor Kramer, Hugo Sonnenschein, Ernst Waldinger, Ludwig Winder und anderer beteiligt war.
Es muss doch einen Auslöser gegeben haben, dass Sie sich so umfassend und engagiert mit dem Massaker vom 7. Oktober beschäftigt haben?
I Kurz nach dem 7. Oktober fuhr ich mit meiner Frau in die Vojvodina, wo meine Eltern als Angehörige der donauschwäbischen Volksgruppe aufgewachsen waren. Es war eine anstrengende und auch bewegende Reise. Einen Tag nach unserer Rückkehr erlitt ich einen zweiten Herzinfarkt und lag auf der Intensivstation. Ich konnte nicht schlafen, schaute vom Bett in den Nachthimmel hinaus und dachte mir, wenn ich jetzt sterbe, habe ich nichts gesagt zu diesen mich so beschäftigenden Ereignissen, zum 7. Oktober und seinen Folgen. Wenn ich da wieder herauskomme, muss ich im ersten Text, den ich schreibe, klar sagen, wie ich die Dinge sehe.
* Jean Améry (geb. als Hans Mayer 1912 in Wien, Selbstmord 1978 Salzburg) wuchs in Wien auf, wurde hier Mitglied des „Wiener Kreises“ und war bis zu seiner Emigration nach Belgien (1938) publizistisch tätig. In Belgien schloss er sich 1941 der Widerstandsbewegung an, wurde verhaftet und verbrachte die Jahre 1943 bis 1945 in Konzentrationslagern (Auschwitz, Buchenwald, Bergen-Belsen). Nach 1945 wieder journalistisch tätig, lebte er hauptsächlich in Brüssel.