„Es ist, als schwebe er mit seiner Braut in die Luft“

Bella Chagalls Erinnerungsband Brennende Lichter, ein melancholischer Rückblick auf das fromme Schtetl ihrer Kindheit, illustriert poetisch die Bilderwelt ihres Mannes Marc Chagall, die derzeit in der Wiener Albertina zu bewundern ist.

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Baschka friert. Unbemerkt hat sich das kleine Mädchen von zu Hause weggeschlichen und ist durch die dunklen schneebedeckten Gassen an einen mit Laternen erleuchteten Saal gelangt. Hochzeiten finden da statt, fast täglich. Im kalten Vorraum steht ein hoher geschmückter Lehnstuhl. Auf diesem Thron wird die Braut ängstlich auf den Bräutigam warten, und wie alle Bräute hier wird sie weinen. Und die Erzählerin weiß:
„Die Braut, die morgen hier sitzen wird, ahnt nichts von den Tränen der heutigen Braut.“
Begleitet von schwarz gekleideten Männern bewegt sich ein zitternder Jüngling auf die Wartende zu.
„Der Bräutigam bewegt nur leicht die Hände, hebt den Schleier und wirft ihn über sich. Es ist, als schwebe er mit seiner Braut in die Luft.“
Was Bella da beschreibt, hat Marc Chagall gemalt. Oft und immer wieder. Fliegende, küssende Paare. Marc und Bella.
Als „Die Braut mit den schwarzen Handschuhen“ hat er sie 1909 das erste Mal porträtiert. Da war sie noch keine 15 und er 22. Dann geht der junge Maler für vier Jahre nach Paris, kommt wieder und heiratet seine Bella in ihrer gemeinsamen Heimatstadt Witebsk. Bis zu ihrem frühen Tod 1944 wird das Paar unzertrennlich bleiben. 1935 reisen die beiden gemeinsam aus Paris, wo sie seit 1922 lebten, zurück an den Ort ihrer Kindheit und Jugend. Diese „Rückkehr in die Vergangenheit“ löst bei Bella Erinnerungen aus, die sie niederschreiben will. Für Marc, der sie so oft „zärtlich gebeten“ hat, von ihrer Kindheit zu erzählen. Und für ihre gemeinsame kleine Tochter, die nur ihr erstes Lebensjahr bei den Großeltern verbracht hat, im Elternhaus, das es nicht mehr gibt. „Alles ist verschwunden oder gestorben“, wie Bella zu Beginn ihrer Aufzeichnungen im Jahr 1939 in Frankreich schreibt.

Verlorenes Paradies. Da ist sie, die ganze Welt des frommen Schtetls, bestimmt durch den Ablauf der Feiertage im Jahreskreis, durch den sechs Arbeitstage lang ersehnten Schabbat, an dem alles ruht. Davor wird geputzt und gekocht, und da ist Baschka, wie Bella daheim genannt wird, nur im Weg. Behütet wächst sie als jüngstes von sieben Kindern in einer Kaufmannsfamilie auf. Die älteren Brüder und der Vater gehen beten, Baschka mit ihrer Mutter jeden Donnerstag ins Badehaus, wo die Badefrau sie von Kopf bis Fuß einseift und kalt abspült und die nackte Mutter unter Gemurmel von Segenssprüchen im Wasser so lange untertaucht, bis die Badefrau „Koo-o-scher!“ ruft. Auch diese Szene in der Mikwe hat Marc Chagall wie etliche andere Kapitel des Bandes mit wenigen treffenden Federstrichen liebevollst illustriert.

„Die Braut, die morgen hier sitzen wird, ahnt nichts von den Tränen der heutigen Braut.“

Bellas poetische Veduten wiederum illustrieren naiv erzählend die Bilderwelt ihres Mannes aus der Perspektive eines kleinen Mädchens mit dem gleichzeitig wehmütigen Wissen der Erwachsenen, dass dieses Kindheitsparadies für immer ausgelöscht ist. Wie in Marcs Malerei sind es Erinnerungen an einen verklärten, verzauberten Ort, in dem man sich in der Familie geborgen und von G’tt beschützt wusste, solange man nach seinen Gesetzen lebte. Dennoch wird viel geseufzt und geweint, und wenn man einmal ausgelassen tanzt und trinkt, natürlich nur wie und wann es geboten ist, dann schämt man sich ein wenig, wie der leicht schickere Vater zu Simchat Thora, und „wir schämen uns mit ihm“, gesteht die Tochter.

Wie die Festtage begangen wurden, von Neujahr bis Tischa beAv, was jeweils auf den Tisch kam, vom Gefilten Fisch bis zu gebratenen Kuheutern, wie man feierte und fastete, sang und betete, wie man wohnte, Gäste bewirtete, die große Kinderschar erzog und die Alten gebührend ehrte, von Rabbinern und Talmudlehrern, von Köchinnen und Mägden, von Bräuchen, Glauben und Aberglauben erzählt Bella so anschaulich und farbig, wie ihr Mann malte.

Und natürlich auf Jiddisch, der Muttersprache, die allein den Geist und den „Tam“ des Schtetls einfangen kann.

Brenendike licht, so der Titel des jiddischen Originals, ist in deutscher Übersetzung bereits in mehreren Auflagen als Taschenbuch erschienen. Nicht nur als wunderbare Ergänzung zur derzeit laufenden Chagall-Ausstellung in der Wiener Albertina ist dieses kleine Fundstück wärmstens zu empfehlen.

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