„Es ist eine Sisyphusarbeit“

Die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) startet einen Forschungsschwerpunkt zum Thema Antisemitismus. Entstehen soll daraus ein international verankertes und interdisziplinär ausgerichtetes Center of Excellence, das die Aufarbeitung des Gegenwartsantisemitismus in Österreich in den Mittelpunkt stellt. WINA sprach dazu mit ÖAW-Präsident Heinz Faßmann und der Koordinatorin des neuen Schwerpunkts, der Historikerin Heidemarie Uhl.

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Heinz Faßmann leitet gemeinsam mit Heidemarie Uhl den neuen ÖAW-Forschungsschwerpunkt zum Thema Antisemitismus. © Ouriel Morgensztern

Das erste Projekt, das im Rahmen des neuen Schwerpunkts diesen März gestartet ist, zeigt bereits den innovativen Zugang, den die Antisemitismusforschung an der ÖAW verfolgen will. Veränderungen antisemitischer Diskurse und ihre Rezeption innerhalb jüdischer Gemeinden in Österreich nennt sich die von Ariane Sadjed geleitete Untersuchung. Im Mittelpunkt steht einerseits die Analyse von antisemitischen – dabei auch impliziten und verdeckten – Äußerungen im Internet, andererseits soll in Interviews mit Jüdinnen und Juden erhoben werden, wie diese im Netz zu solchen judenfeindlichen Kommentaren Stellung beziehen, aber auch wie solche Äußerungen sich auf ihren Alltag auswirken.

„Dieser Ansatz zeigt Betroffene als aktive Handelnde im Umgang mit Antisemitismus und welche Strategien online und offline angewendet werden, um Antisemitismus zu bewältigen. Dies ist ein wichtiger Beitrag, um Jüdinnen und Juden nicht auf einen Opferstatus zu reduzieren, zudem lassen sich daraus konkrete Empfehlungen ableiten“, heißt es in der Projektbeschreibung auf der Seite der ÖAW. Und weiter: „Antisemitische Diskurse in österreichischen Online-Medien sehen wir als einen ‚Testfall‘, durch die Zusammenhänge zwischen lokalen, österreich-spezifischen Phänomenen und globalen Entwicklungen erfasst werden können.“

Der Forschungsschwerpunkt, der Teil der jeweils mehrjährigen Leistungsvereinbarung der ÖAW mit dem Wissenschaftsministerium sowie auch Teil der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus der Regierung ist, will, anders als das die Politik oft tut, wenn es um Antisemitismus geht, „nicht vorurteilsbehaftet“ vorgehen, betont Faßmann. Als früheres Regierungsmitglied – er war langjähriger, von der ÖVP nominierter Bildungsminister – bestätigt er, dass es hier durchaus auch zu Vereinnahmungen des Themas kommen kann.

 „[…] aber wir dürfen nicht aufgeben,
müssen weiter Aufklärungsarbeit leisten
und den Stein wieder hinaufrollen.“ 

 Heinz Faßmann 

„Natürlich muss man untersuchen, ob die These des importierten Antisemitismus, des über Zuwanderung mitgebrachten Antisemitismus, stimmt oder nicht. Dem muss man sich widmen. Man muss aber auch untersuchen, wie sich der traditionelle Antisemitismus, der von rechts kommt, entwickelt. Und was ist mit der These, der Antisemitismus komme aus der Mitte der Gesellschaft? All das werden wir aufgreifen, dabei sensibel sein, aber nicht einseitig, und vor allem darf man keine einseitigen Schuldzuweisungen machen. Das ist, was Wissenschaft setzen muss: einen offenen Blick haben für das, was tatsächlich die Situation ausmacht“, sagt der ÖAW-Präsident und hält fest: „Antisemitismus ist noch immer ein Teil unserer Gesellschaft. Es ist daher sinnvoll und notwendig, das Thema auf einen sicheren wissenschaftlichen Boden zu stellen.“

Der ÖAW-Schwerpunkt umfasst vier Forschungsaktivitäten: Da ist zum einen eine Bestandsaufnahme, die von den Historikerinnen Helga Embacher und Alexandra Preitschopf geleitet wird. „Wir wollen ja das Rad nicht neu erfinden“, betont Uhl. Embacher werde sich mit ihrem Team daher ansehen, was es international bereits an Antisemitismusforschung gibt und dabei auch identifizieren, „wo es innovative Forschung gibt und wie diese aussieht“. Einen ersten Zwischenbericht erwartet Uhl dazu im kommenden Herbst.

Historikerin Heidemarie Uhl ist es wichtig, das gesamte Spektrum gegenwärtiger antisemitischer Denkweisen zu erfassen. © Daniel Shaked

Die zweite Säule bilden Forschungsprojekte wie jenes von Sadjed. Fellowships sollen hier im Bereich der Antisemitismusforschung arbeitende junge Wissenschafter und Wissenschafterinnen, so genannte Postdocs, nach Wien bringen. „Gerade Postdocs sind am Puls der gegenwärtigen Forschung“, betont Uhl. Die Ausschreibung für diese einjährigen Fellowships wird so gestaltet sein, dass sie innerhalb eines gesetzten Rahmens möglichst vieles an spezifischen Fragestellungen zulassen.

Den Rahmen des Gegenwartsantisemitismus in Österreich hat Uhl dabei um einen Aspekt erweitert: den des Nachkriegsantisemitismus. „Es geht mir dabei um die Einordnung, was ist neu, was ist das Österreich-Spezifische und wo sind die Kontinuitäten.“ Kontinuitäten spricht auch Faßmann an. Er erinnert an den Jahrhunderte alten christlichen Antisemitismus. Hier müsse man wohl auch ansetzen, wenn es um das Phänomen des Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft gehe.

Der dritte Bereich des nun anlaufenden Antisemitismusforschungsschwerpunkts der ÖAW ist die Vernetzung mit Institutionen wie dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), dem Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI) oder der IKG, aber auch mit in diesem Bereich Forschenden an Österreichs Universitäten und außeruniversitären wissenschaftlichen Einrichtungen, etwa im Bereich der Geschichte oder Politikwissenschaft.

Die vierte Säule bildet schließlich das Monitoring von Antisemitismus. Dabei will man zunächst auf die von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka seitens des Parlaments etablierten Umfragen zurückgreifen und deren Ergebnisse untersuchen, für die Zukunft aber auch überlegen, wie die ÖAW diese fortsetzen könne, falls das Parlament diese nicht mehr durchführe. Meldestellen wie jene der IKG könnten nur das erfassen, „was sich schon manifest darstellt, nämlich antisemitische Übergriffe“, so Faßmann. „Wir gehen eine Stufe zurück und wollen auch messen, was latent an antisemitischen Denkmustern in der Bevölkerung vorhanden ist“, betont der ÖAW Präsident. Daher sei das nun bereits zum dritten Mal durchgeführte Monitoring des Parlaments auch so wichtig.

 

 „Wenn es um den Antisemitismus etwa 
 bei der zweiten oder dritten Generation in Familien geht, 
 kann man nicht von importiertem Antisemitismus sprechen.“ 
 Heidemarie Uhl 

 

Doch können Umfragen hier tatsächlich Ergebnisse liefern, die auch die Realität abbilden? Wissen Menschen, vor allem jene, die in Österreich die Schule besucht haben, nicht sehr genau, was sie in solchen Situationen sagen sollen und was nicht? „Sie haben schon Recht, das Wissen um sozial erwünschte Antworten spielt bei solchen Befragungen eine Rolle“, räumt Faßmann ein. „Deshalb hat man aber in solchen Fragebögen eine ganze Reihe an Fragen zu einem Aspekt und hofft auf einen Ermüdungseffekt seitens der interviewten Personen, die so ihre innere Diszipliniertheit irgendwann aufgeben. So ein Fragebogen hat außerdem auch Kontrollfragen. Das Identifizieren von latenten Meinungen kann die empirische Sozialforschung.“

Er gibt allerdings seinerseits zu bedenken, dass jede Umfrage auch immer in ihrem zeitlichen Kontext zu bewerten sei. Das letzte auch bereits ausgewertete Monitoring des Parlaments fand kurz nach dem Attentat in und rund um die Seitenstettengasse im November 2020 statt. „Das hat damals möglicherweise das Ergebnis im Vergleich zur ersten Befragung ins Positive gebracht.“ Hier müsse man also aufpassen und auch relativieren. „Deshalb ist es eben auch wichtig, solche Befragungen regelmäßig zu machen, damit man solche zeitlichen Ausschläge erkennen kann.“

Eine Gruppe, die bei den bisherigen vom Parlament in Auftrag gegebenen Befragungen immer durch stärkere antisemitische Einstellungen auffiel als der Durchschnitt der Bevölkerung, waren migrantische Gruppen, hier vor allem Muslime. Das kann – siehe oben – einerseits damit zu tun haben, dass hier das sozial erwünschte Antwortverhalten noch nicht so trainiert wurde. Allerdings betont Uhl, dass man sich hier bei der Forschung nicht nur auf den so genannten importieren Antisemitismus – also jenen von Zuwanderern, beispielsweise aus Syrien oder anderen arabischen Ländern – beschränken wolle. „Wenn es um den Antisemitismus etwa bei der zweiten oder dritten Generation in Familien geht, kann man nicht von importiertem Antisemitismus sprechen. Uns geht es wirklich um das ganze Spektrum.“

Wenn man die Faktenlage kennt, hilft das auch bei der Bekämpfung eines Problems. „Ich hoffe, dass aus dieser Transparenz auch das beginnt, was man als Verarbeitung oder Sensibilisierung bezeichnen könnte. Wenn etwas klar und offensichtlich ist, dann kann man darüber sprechen, und wenn man darüber sprechen kann, kommt es vielleicht auch zu einer Verhaltensänderung“, sagt der ÖAW-Präsident. Faßmann würde sich daher freuen, wenn die Forschung der ÖAW langfristig dazu beiträgt, Antisemitismus zu verringern.

Dass es Politiker und Politikerinnen gibt, die eine Klaviatur bespielen, die antisemitische Ressentiments bedient, bedauert Faßmann, sieht aber wenig Chancen, das ganz zu unterbinden. „Es geht in solchen Fällen um die Maximierung von Wählerstimmen, die man erreichen möchte. Was die Wissenschaft dazu sagt, ist dabei nachrangig. Dahingehend habe ich auch einen gewissen Pessimismus, dass die Wissenschaft allein die Welt zum Besseren verändern kann. Sie soll ihren Beitrag leisten, aber es ist eine Sisyphusarbeit. Der Stein rollt immer wieder herunter, aber wir dürfen nicht aufgeben, müssen weiter Aufklärungsarbeit leisten und den Stein wieder hinaufrollen.“

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