Es zählt nur das Jetzt

In Albert Tuchmanns Leben dreht sich alles um die Chirurgie und um seine Familie. Bis heute steht er regelmäßig im OP. Kümmert er sich gerade nicht um Patienten, reist er zu Kongressen oder organisiert selbst große Tagungen. Der Blick in die Vergangenheit interessiert ihn kaum, erklärt Tuchmann, dessen Eltern die NS-Zeit in Wien überlebten, im Interview mit WINA.

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©Daniel Shaked

Albert Tuchmann wurde 1949 in Wien geboren. Er blieb ein Einzelkind. Seine Kindheit und Jugend beschreibt er heute als „Aufwachsen in komplett entspannter Atmosphäre“: Die Familie wohnte in der Liebiggasse im ersten Bezirk, wo er bis heute seine Ordination führt. Er besuchte die Volksschule in der Lange Gasse, das Gymnasium in der Wasagasse, studierte an der Universität Wien Medizin, darauf folgte die Facharztausbildung zum Chirurgen am AKH.
In seiner Jugend war er öfter bei Matches der Austria Wien am Fußballplatz anzutreffen – bis etwa zum Alter von 17 Jahren. „Mit 14, 15 war ich noch der Überzeugung, der Gegner beim Fußball gehört vernichtet. Als ich dann mit 17, ich hatte noch nicht maturiert, am Sportplatz gehört habe, wie man dem Gegner wünscht, dass er sich die Beine bricht, habe ich gewusst, mit dieser Art will ich nichts zu tun haben.“
Zu Hause sprach man Deutsch – „meine Eltern sprachen akzentfrei“. Die Mutter war bereits selbst in Wien geboren worden, der Vater zog im Alter von zehn Jahren aus der Bukowina nach Wien. Jiddisch, das der Vater im Umgang mit Bekannten durchaus pflegte, erlernte der Sohn nicht. Die Familie war wenig religiös, „ich bin aber in den Religionsunterricht gegangen, weil meine Eltern meinten, ich soll mir später eine Meinung bilden, aber nicht vom Fleck weg nicht jüdisch oder ohne Religion aufwachsen.“ Er lernte zu beten, auch Hebräisch („ich habe fast alles vergessen“), feierte Bar Mitzwa. Im Erwachsenenalter entschied er, „dass ich mich zum Judentum bekenne, religiöses Brauchtum aber nur am Rande ausübe. Zu Jom Kippur gehe ich in den Tempel. Ich übe in erster Linie meinen Beruf aus und verbringe Zeit mit meiner Familie.“
„Wir leben in einer assimilierten Situation – wobei ich mich nicht zur Assimilation bekenne, weil das hat mit Gleichmacherei und Gleichgültigkeit zu tun. Ich übe halt Religion nicht aus“, so Tuchmann weiter. Ähnlich halten es seine Frau und seine beiden Kinder, heute 31 und 32 Jahre alt. „Sie waren im jüdischen Religionsunterricht, und meine Tochter war auch schon mehrmals mit großem Spaß in Israel.“ Bewusst jüdisch sein: ja. Die Religion auch ausüben: nein.

Albert Tuchmann,
geboren 1949 in Wien als Sohn eines jüdischen Ehepaars, das bis Kriegsende in Wien überlebte. Matura am Wasagymnasium, Medizinstudium an der Universität Wien, Facharzt­ausbildung zum Chirurgen am AKH Wien. Zunächst Oberarzt in der Rudolfstiftung, ab 1991 bis zu seiner Pensionierung Vorstand der Chirurgie im SMZ Floridsdorf, daneben Ordinationin der Wiener City, die er bis heute weiterführt. Daneben ist er Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Chirurgie. Tuchmann ist verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder. ©Daniel Shaked

Jüdisches Spital. Er wisse, was Antisemitismus ist, „aber durch meine vielleicht immer privilegierte Situation in Wien durch gute Schulerfolge, durch Geradlinigkeit habe ich den Antisemitismus persönlich wenig kennengelernt.“ An eine Situation im Studium kann sich Tuchmann erinnern, da habe ein Kollege zu ihm gesagt, „wenn alle Juden so wären wie du“. „Das ist eigentlich der Inbegriff von Antisemitismus“, betont der Mediziner heute, „dass wenn einer anders ist, man ihn schon an den Rand stellt oder sogar tätlich wird“.
Seine Eltern lernten nicht nur Antisemitismus kennen, sie lebten Jahre lang mit der Gefahr, deportiert und ermordet zu werden. Tuchmanns Vater, Emil Tuchmann, arbeitete bis zu Kriegsende im Jüdischen Spital in der Malzgasse (das brachten die Recherchen zum Sensationsfund in der heutigen jüdischen Schule zutage – WINA berichtete in der April-Ausgabe). Der Sohn vermutet die Malzgasse heute im 18. Bezirk und weiß über das jüdische Spital wenig, zum Beispiel, dass Patienten unter falscher Diagnose wie „Blinddarmentzündung“ aufgenommen wurden, um sie vor dem KZ zu bewahren. Er wisse über diese Zeit allgemein alles, betont Tuchmann, deswegen interessieren ihn die schrecklichen Details wenig. „Ich bin kein Masochist.“
Und der Chirurg sagt: „Ich bin kein Traditionalist. Ich ehre die Alten und die Vergangenheit. Aber ich war nie an den Stätten meines Vaters, auch nicht in der Bukowina.“ Schaffe er mit dieser Art des Umgangs mit der Vergangenheit Distanz zu den Gräueln, die passiert sind? „Nein, gar nicht. Das ist ohne Emotion. Ich lebe im Jetzt, und im Jetzt habe ich genug zu tun. Ich bin zwar im Spital von der Stadt Wien vor vier Jahren in Rente geschickt worden, aber ich mache meine Ordination weiter und bin als Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Chirurgie ständig in der Öffentlichkeit, bei Kongressen und in Sitzungen. Das tut mir gut. Nur Tauben füttern oder Golf spielen wäre nichts für mich.“
Wie aber haben nun seine Eltern – ganz offiziell, nicht als U-Boote – in Wien die Nazi-Zeit überlebt? „Sie haben den Krieg überlebt, weil der Krieg irgendwann aus war, bevor der letzte Jude tot war.“ Tuchmann weiß, dass sein Vater nicht nur im Jüdischen Spital, sondern auch in seiner eigenen Ordination arbeitete. „In der Praxis durfte er aber auch nur jüdische Patienten behandeln. Die Details kenne ich nicht. Sie sind auch vollkommen irrelevant.“
Eine Begebenheit habe ihm der Vater erzählt: Immer wieder habe er mit der SS zu tun gehabt. Dadurch habe er sich auch ständig in Gefahr gefühlt, inhaftiert und deportiert zu werden. „Das hat zur Tagesordnung gehört wie auch das Tragen des Judensterns“, so der Sohn heute. Ein SSler sei Arzt gewesen, der habe zu seinem Vater gesagt, er solle ihm drei Schritte vom Leib bleiben. „Das war der Vater von einem Kollegen von mir. Aber ich habe den Kollegen nie darauf angesprochen, weil das eine vergangene Zeit ist. Man muss es wissen, aber es ist nicht zielführend, die Kinder und Kindeskindes deswegen zur Rede zu stellen.“ Ob er wisse, welche Weltanschauung der Sohn dieses SS-Arztes habe? „Nein, dazu kenne ich ihn nicht gut genug. Aber wenn man bedenkt, dass der Vater ein SS-Schwein war, der sagt, er wünsche, dass ihm ein anderer drei Schritte vom Leib bleibt, das muss man sich vorstellen. Wie viele Leute da misshandelt und umgebracht wurden, das weiß, glaube ich, nur ein Blinder nicht. Da braucht man sich nur einen Film anschauen wie Schindlers Liste.“

»Sie haben den Krieg überlebt,
weil der Krieg irgendwann aus war,
bevor der letzte Jude tot war.«

Albert Tuchmann 

Insgesamt fühle er sich über den Krieg und was sich in der Zeit in Wien abgespielt habe, „mehr als genug aufgeklärt“. Aus der Nachkriegszeit könne er sich noch dunkel an die „Vier im Jeep“ erinnern – ob da Bilder aus der Wochenschau, die er regelmäßig mit seiner Mutter in einem Kino am Graben oder im Non-Stop-Kino auf der Mariahilfer Straße angesehen habe, und eigene Erinnerungen überlappen, könne er aber nicht mehr sagen.
Im Gymnasium seien neben ihm je nach Jahrgang zwei bis drei andere jüdische Schüler in der Klasse gewesen. Dass Eltern von Mitschülern Nazis gewesen seien, sei wahrscheinlich, doch gesprochen habe man darüber nie. „Wenn ich heute sage, das hat mich damals nicht interessiert, merke ich, es würde mich schon interessieren. Aber es war damals kein Thema. Das Thema war, dass man vorbereitet ist auf den Griechisch-Unterricht und dass es Sanktionen gibt, wenn man nicht vorbereitet ist. Wir waren auch keine Klasse von Philosophen oder Supersportlern. Schule war Schule, und das war es.“
Wien erlebt Tuchmann heute als Stadt mit hoher Lebensqualität. Die Weltstadt von einst sei inzwischen wieder Weltstadt und prädestiniert als Ort, um Kongresse auszutragen. Er habe sich deshalb auch für 2023 oder 2025 für die Abhaltung des Weltkongresses für Chirurgie in Wien beworben. Dennoch sehe er die Veränderungen in der Stadt mit großer Besorgnis. „Ich gehöre nicht der Geistesrichtung an, die sagt, jeder, der schon in der Schule oder zu Hause zu 90 Prozent Antisemitismus mit der Muttermilch bekommt, ist hier willkommen.“ Und wenn eine Frau niedergestochen werde, „dann war das zu 80 Prozent kein braver Österreicher“. Es gebe Straßenschlachten zwischen Afghanen und Tschetschenen. „Das kann man keinem Österreicher zumuten, und Juden kann man es schon gar nicht zumuten.“
Dennoch habe er natürlich Mitleid mit Menschen, die leiden. „Und ich bin zu Tränen gerührt beim Anblick von kleinen Kindern, die von ihrem Zuhause vertrieben wurden, das ist furchtbar und schrecklich. Ich war bei einer Sitzung in Salzburg, als die Migration am Höhepunkt war, da habe ich junge Burschen am Bahnhof gesehen und mir gedacht, wie schrecklich. Das könnte mein Sohn sein.“

Umgang mit Tradition. Tuchmanns Sohn wurde wie der Großvater und der Vater Arzt und absolviert derzeit die Facharztausbildung zum Dermatologen. Die Tochter ist im Bereich digitale Medien tätig. Dass sich der Sohn ebenfalls für Medizin entschied, sei dessen eigene Wahl gewesen. „Er geht einen ähnlichen Weg, aber ohne Zwang, ohne Beeinflussung. Das ist meine Familienpolitik. Niemand wird zu etwas gezwungen, wir Eltern wollen nur gerne warnen, wenn wir sehen, es läuft etwas nicht gut.“
Wenn man mit Albert Tuchmann spricht, gewinnt man den Eindruck, in seinem Leben, in seiner Familie läuft rundherum alles gut. „Ich bin sicher privilegiert. Ich bin in Wien geboren, in Wien zur Schule gegangen, durfte studieren. Ich habe immer genug Geld gehabt. Ich betrachte mich als bescheiden. Meine Eltern waren keine Millionäre, und wir hatten kein Zweithaus. Aber ich habe immer alles gehabt, was ich gebraucht habe.“
Seit seiner Heirat 1985 lebt er im 19. Bezirk. „Als ich meine Frau kennengelernt habe, dachte ich, die Liebiggasse wird mein heiliger Gral sein – aber es war nicht so.“ Der Eingriffsraum in seiner Ordination, in dem er bis heute kleine Operationen durchführt, befindet sich in jenem Raum, der einst sein Kinderzimmer gewesen war. Ob er daran denke, wenn er dort operiere? „Eigentlich gar nicht. Mit dem Wegzug von hier war mir klar, dass die Liebiggasse keine zentrale Bedeutung hat. Das ist mein Umgang mit Tradition.“

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