Am 19. Jänner hält die ganze Nation den Atem an – viele Stunden lang. Seit dem Morgen laufen in Israels führenden Fernseh- und Radiokanälen durchgehende Live-Sondersendungen, die jede Phase des Dramas dokumentieren und analysieren. Hält die Hamas sich an die vier Tage zuvor verkündeten Vereinbarungen? Tritt die Feuerpause wirklich in Kraft, oder bricht alles gleich zusammen? Und immer wieder die Namen Romi, Emily, Doron, die inzwischen jeder kennt – wo sind sie jetzt, und in welchem Zustand sind sie, die drei jungen Frauen? Werden sie nach 471 Tagen in der Hölle der Gefangenschaft bei den palästinensischen Dschihadisten wirklich nachhause kommen? Erst gegen 17 Uhr zeigen die verschwommenen, von der Hamas inszenierten Bilder aus GazaStadt drei Frauengestalten auf dem Rücksitz eines Vans. „Sie stehen auf ihren Füßen!“, lautet der Jubelruf, als Romi, Emily und Doron, die man jetzt erkennen kann, aus eigener Kraft aussteigen – man hatte ja befürchten müssen, dass sie vielleicht verletzt, krank oder erschöpft auf Tragbahren liegen würden. Nochmals Beklemmung, als sie, von Sturmgewehre schwingenden Maskierten geführt, durch eine von der Hamas herbeibestellte bedrohliche Menschenmenge einen Spießrutenlauf zu den Rot-Kreuz-Fahrzeugen überstehen müssen. Und dann immer mehr Erleichterung und Freudentränen, als die „Schavot“, wie sie jetzt genannt werden (also die „Rückkehrerinnen“, nicht mehr die „Geiseln“), der israelischen Armee übergeben werden, dann in einer Auffangstation in Re’im ihren Müttern um den Hals fallen und danach in einem Armee-Hubschrauber sitzen, der sie zum Tel-Haschomer-Krankenhaus bei Tel Aviv fliegt.

Bis zu dem Zeitpunkt, da diese Zeilen geschrieben werden, hat die Hamas im Rahmen des jüngsten Feuerpause-Abkommens insgesamt dreizehn israelische Geiseln freigegeben – neun Frauen und vier Männer –, und dazu fünf thailändische Gastarbeiter, die ebenfalls am 7. Oktober 2023 verschleppt worden waren. An jedem der vier Tage, an denen diese misshandelten, schon verloren geglaubten Menschen ins Leben zurückkehrten, kam in Israel so etwas wie Euphorie auf. Das ist verständlich in einer Gesellschaft, die sich seit 16 Monaten im Krieg befindet und nach guten Nachrichten dürstet. Aber wirklich berechtigt ist es nicht, denn die Modalitäten, auf die Israel sich da eingelassen hat, wären eigentlich ein Grund für Frust und Zorn. Bei jeder Geisel, die freikommt, muss man doch an die vielen denken, die noch lange nicht freikommen werden.
Nur einige wenige pro Woche. Das Abkommen sieht eine erste Phase von sechs Wochen vor. Bis zum Ende dieser sechs Wochen sollen insgesamt 33 Geiseln freikommen – also jeweils nur einige wenige pro Woche. Und man erfährt nur kurz vorher, wer eigentlich freikommt, und muss jedes Mal bis zur letzten Sekunde zittern. Das ist immer wieder ein Nervenkrieg, eine fast unerträgliche Tortur. Aber das ist erst die erste Phase! Wer weiß, ob überhaupt das Ende dieser ersten Phase erreicht wird? Und selbst, wenn es erreicht wird: Gegen Ende Februar wäre nur ein Drittel der Geiseln frei. Zwei Drittel wären noch immer in den Händen der Hamas.
Jeder Versuch, die Lage zu analysieren und Entwicklungen
vorauszusehen, scheitert an den unzähligen
Widersprüchen und Komplikationen.
Die Frage drängt sich auf: Wenn Israel schon so vielen Forderungen der Hamas nachgegeben hat, warum hat man dann nicht darauf bestanden, dass alle verbliebenen Geiseln sofort freikommen? Jede Minute dieser Gefangenschaft ist eine Folter, jeder Tag kann der letzte sein, und jetzt müssen viele noch einmal monatelang warten – eigentlich unfassbar. Die Antwort ist vielleicht schlicht das, was David Barnea, Chef des Auslandsgeheimdiensts Mossad und einer der israelischen Unterhändler bei den Verhandlungen mit der Hamas, verzweifelten Angehörigen von Geiseln gesagt hat, die nicht auf der Liste für die erste Phase standen: „Das ist kein perfekter Deal, aber das ist der beste Deal, den wir bekommen konnten.“
Ja, vom ersten Moment an, als man begriff, dass nicht weniger als 251 Menschen aus Südisrael jetzt in finsteren Tunneln irgendwo im Gazastreifen saßen, war es klar: Israel kann die Hamas vielleicht militärisch aufreiben, wird aber durch die Geiseln erpressbar bleiben – sie sind das einzige Druckmittel der Hamas, aber ein sehr starkes. Deswegen war die Geiselnahme auch ein wichtiger Punkt in den Anweisungen der Hamas-Führung an ihre „Kämpfer“ für den Überfall am 7. Oktober gewesen: Terror verbreiten durch Massaker an Zivilisten, aber auch lebende Israelis als Tauschware in den Gazastreifen mitbringen. Israels Armee musste dann immer berücksichtigen, dass Geiseln in den Kampfgebieten versteckt sein konnten, und die Hamas konnte letztlich die Feuerpause erzwingen und bis zu einem gewissen Grad die Bedingungen dafür diktieren.

Hat die Hamas gewonnen? Jede Geiselübergabe wird als martialische Show inszeniert, die demonstrieren soll, dass die Hamas überlebt hat und wieder die Straßen kontrolliert. Und Massen von Palästinensern strömen nun zurück in die Nordhälfte des Gazastreifens, praktisch unkontrollierbar, unter ihnen also sicher auch viele Hamas-Männer. Das bedeutet, dass Israel vielleicht nicht mehr die Möglichkeit haben wird, bei einem Scheitern des Abkommens den Krieg einfach so fortzusetzen, denn die Hamas hat jetzt eben wieder ihren Schutzschild in Form der eigenen Zivilbevölkerung. Heißt das, dass die Hamas gewonnen hat? Nein, sie hat einen Großteil ihrer militärischen Kapazitäten verloren, sie kann fast keine Raketen mehr auf Israel abschießen, ein Angriff wie am 7. Oktober scheint ausgeschlossen. Und im Gazastreifen wurden zehntausende Menschen getötet, ganze Zonen sind verwüstet, der Wiederaufbau, sofern er überhaupt möglich ist, würde viele Jahre dauern. Nach normalen, vernünftigen Kriterien wurde die Hamas schwer geschlagen. Aber Terrorgruppen haben andere Kriterien: Wenn nur ein einziger Terrorist überlebt, kann er aus einem Tunnelschacht herauskriechen, das VictoryZeichen machen und auf den Trümmern Siegesfeiern veranstalten.
Jeder Versuch, die Lage zu analysieren und Entwicklungen vorauszusehen, scheitert an den unzähligen Widersprüchen und Komplikationen. Das spiegelt sich schon in dem merkwürdigen Abkommen wider, das die Lösung sein soll, aber voller Probleme steckt. Es sieht eine Phase eins vor, deren Umsetzung angelaufen ist, aber auch Phasen zwei und drei, die erst ausgehandelt werden sollen und über die nur vage Vorstellungen bestehen. In der Substanz ist das Abkommen ein Gemenge aus Einstellung der Kämpfe, Umgruppierung der israelischen Truppen, Rückwanderung von hunderttausenden Palästinensern, Freilassung von hunderten palästinensischen Terroristen, Freigabe der israelischen Geiseln, Wiederaufbau des Gazastreifens. Alle diese Elemente sind ineinander verzahnt. Und die über allem schwebende Kernfrage lautet: Ist das nur eine befristete Feuerpause oder doch schon der dauerhafte Waffenstillstand?
„Das ist kein perfekter Deal, aber das ist der
beste Deal, den wir bekommen konnten.“
David Barnea
Eingebauter Widerspruch. Für die beiden US-Präsidenten Joe Biden und Donald Trump war klar, dass mit dem Abkommen der Krieg beendet wird. Israels Premier Benjamin Netanjahu hingegen bleibt dabei, dass nach der Befreiung aller Geiseln der Krieg weitergehen müsse, bis die Hamas endgültig ausgeschaltet ist: „Ich möchte alle unsere Geiseln herausbekommen und alle unsere Kriegsziele erreichen – dazu gehört auch, die Militär- und Verwaltungskapazitäten der Hamas zu zerstören und zu garantieren, dass die Hamas nie mehr Israel bedrohen kann. Ich habe diese drei Ziele, und ich kann alle drei erreichen.“ Ja, aber die Ziele, die Geiseln zu befreien und die Hamas auszuradieren, waren vielleicht von vornherein unvereinbar. Und das Abkommen, das von Washington gepusht und erzwungen wurde, fußt auf einem fundamentalen inneren Widerspruch in der US-Politik, der schon in Bidens richtungweisender und vielbeachteter Rede vom 31. Mai steckte. In seinen Einleitungssätzen hatte Biden von einem „Tag danach in Gaza ohne Hamas an der Macht“ gesprochen, um dann fast im gleichen Atemzug die Details eines Abkommens mit der Hamas aufzuzählen. Doch wieso soll die Hamas sich an ein Abkommen halten, das zu ihrer eigenen Entmachtung führen soll?
Mit diesen Widersprüchen quälen sich besonders die Angehörigen der Geiseln ab. Die meisten von ihnen haben für ein Abkommen mit der Hamas demonstriert und gekämpft. „Bleibt nicht stehen“, rief jetzt Nissim Calderon, dessen Bruder Ofer am 1. Februar freigekommen ist, „macht weiter mit dem Abkommen, um alle zurückzubringen, so schnell wie möglich!“ Doch im „Forum Hoffnung“, zu dem sich eine Minderheit der Angehörigen zusammengeschlossen hat, war man gegen das Abkommen. „Das war eine Kapitulation, ein Deal, durch den zwangsläufig ein Teil der Geiseln aufgegeben wird“, sagt Boas Miran, dessen 46-jähriger Bruder Omri nicht für die erste Phase vorgesehen ist. „Ich sehe nicht, wie die Hamas auf das wichtigste Pfand verzichtet, das sie sich verschafft hat – bis zum Ende kommen wir nicht, 20 oder 30 Geiseln wird die Hamas als Versicherung behalten.“