Während der Zeit des Nationalsozialismus verlor Europa seine besten jüdischen Köpfe. Nicht nur wurden sechs Millionen im Holocaust getötet, auch verließ ein Großteil den „alten Kontinent“ rechtzeitig und fand einen sicheren Hafen in fernen Ländern, was diesen freilich zugutekam. Infolge tödlicher Pogrome und Lynchmorde – vor und nach der Staatsgründung Israels 1948 – emigrierten zudem über eine Million Juden aus der islamischen und arabischen Welt. Im späten 20. Jahrhundert sollte es dann noch einen jüdischen Exodus aus Ländern des Warschauer Pakts, Äthiopien und der ehemaligen Sowjetunion geben. Die Geschichte der Juden in der Diaspora hat oft bewiesen, dass, wenn immer eine Zivilisation sie vertrieb, diese dabei kulturellen und ökonomischen „Selbstmord“ beging. War nach 1945 ein Neuanfang für Juden in Deutschland und Österreich sowie in den meisten Ländern Europas nicht mehr vorstellbar, so erblühten schon kurz danach ihre Gemeinden erneut. Doch mit dem Wiedererstarken rechter Parteien, vor allem aber durch die Gefahr des islamischen Antisemitismus scheinen die Tage des jüdischen Lebens in Europa gezählt zu sein.

„Furchterregend, dieser weltweite Antisemitismus“, sagt der Holocaust-Überlebende Otto Neumann aus Tel Aviv. „Mein Vater – ein deutscher Patriot – wollte nicht auswandern. Er liebte seine Heimat und wollte trotz der Feindseligkeiten seine kulturelle und nationale Identität bewahren. Doch auch sein Eisernes Kreuz für seine Verdienste im Ersten Weltkrieg verschonte ihn nicht, eines der ersten Opfer nach der Machtergreifung zu werden.“

Und weiter: „Dass nach 1945 wieder so ein Hass aufkommt und man als Jude vor allem in westlichen Länder unsichtbar leben muss, hätte ich nicht mehr für möglich gehalten. All die weltweite Aufarbeitung der Ereignisse im Dritten Reich, die zahlreichen Gedenkstätten und Nie-wieder-Sonntagsreden haben am Ende nicht viel gebracht. Zum Glück leben meine Kinder und Enkel wieder in Israel.“

Nach dem von der Hamas angeführten Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Konflikt machte sich der 95-jährige Literaturwissenschaftler – der in Aurich, Ostfriesland, geboren wurde – große Sorgen um seine Familie. Denn seine Tochter musste als Universitätsdozentin die judenfeindliche Stimmung in London miterleben und seine Enkelin eine ähnliche Hetze an der Humboldt Hochschule in Berlin. Das Massaker der palästinensischen Terrororganisation in Ortschaften entlang des Gazastreifens, bei dem 1.200 Menschen – hauptsächlich Zivilisten – brutal abgeschlachtet und fast 5.000 verletzt wurden, brachte knapp 24 Stunden weltweite Empathie für den jüdischen Staat. Aber der israelische Gegenschlag, um die Hamas zu entmachten und die über 200 Geiseln zu befreien, führte zu einem seit 1945 noch nie dagewesenen Anstieg antisemitischer Hassverbrechen in Europa und weiterer westlicher Länder.

„Ähnlich wie in Deutschland vor 1933 war ganz Europa für viele Jahrhunderte ein sicherer Hafen für Juden“, erzählt Neumann. „Aber seit dem 7. Oktober wird der Antisemitismus dort wieder normalisiert.“

Der Anstieg antisemitischer Vorfälle in ganz Europa hat die Fragilität der jüdischen Sicherheit in der Diaspora deutlich gemacht. So haben beispielsweise die jüngsten Angriffe auf israelische Fußballfans in Amsterdam das Fortbestehen des Judenhasses in Europa und sein Besorgnis erregendes Wiederaufleben deutlich gemacht. Die Schlachtenbummler von Maccabi Tel Aviv wurden zu erniedrigenden Handlungen gezwungen, wie etwa dem Rufen politischer Parolen gegen ihren Willen, während Passanten und einige Polizisten kaum etwas taten, um wirksam einzugreifen. Dies zeigte nicht nur die physische Bedrohung, sondern auch die gesellschaftliche Gleichgültigkeit gegenüber Antisemitismus.

„Wenn Europa […] sein
jüdisch-christliches Erbe
bewahren möchte, sollte es
endlich anfangen, das unmissverständlich klarzumachen.“

Otto Neumann

Diese Vorfälle verstärken die Befürchtungen, dass die europäischen Behörden möglicherweise nicht ausreichend ausgestattet oder motiviert sind, um jüdische Gemeinden zu schützen. Vor allem in den Beneluxstaaten, in Deutschland, Skandinavien und im Vereinigten Königreich, wo zunehmend Scharia-kontrollierte „No-goZonen“ entstehen, sehen viele die Situation als die schlimmste seit dem Zweiten Weltkrieg; und sollte sie sich weiter verschlechtern, wären viele Juden sogar bereit, Europa zu verlassen. Mit am schlimmsten ist dabei die Lage in Frankreich. Während bis in den 1990er-Jahren vor allem der rechte Faschismus eine Bedrohung darstellte, ist seit über zwei Jahrzehnten der arabische und islamistische Judenhass zu einem ernsten Problem geworden.

„Zuerst mussten wir unseren Davidstern, die Mesusa und die Kippa verstecken“, erzählt der ehemalige französische Parlamentarier Meyer Habib während eines Besuchs in Tel Aviv. „Als nächstes werden sie wahrscheinlich religiösen Juden empfehlen, sich den Bart abzuschneiden. Doch sollen wir vor dem Islamismus einknicken?“ Es sei wichtig, angesichts zunehmender Bedrohung die jüdische Identität zu bewahren.

Unleugbare Gefahr. Tatsächlich ist die islamische Gefahr besorgniserregend. Laut jüngsten Umfragen erklärten fast ein Viertel der französischen Muslimen, das sie Juden feindlich gegenüberstehen. Über die Hälfte wünscht sogar die Vernichtung Israels, und genauso viele sehen die Angriffe der Hamas vom 7. Oktober als Akt des Widerstands. Darüber hinaus ist die „Grande Nation“ das einzige Land im Europa des 21.Jahrhunderts, in dem Juden regelmäßig ermordet wurden, nur weil sie Juden waren. Seit der Entführung, Folter und Ermordung von Ilan Halimi im Januar 2006 wurden alle in Frankreich ermordeten Juden von Muslimen getötet. „Ab dem Millennium hat sich die Situation für uns von Jahr zu Jahr verschlechtert“, sagt Habib. „Die negativen Veränderungen sind oft Reaktionen der Ereignisse im Nahen Osten. Doch seit dem 7. Oktober wurden alle Grenzen überschritten. Die RadikalIslamisten haben sich mit der extremen Linken verbündet, die zu einer Art Fürsprecher der Hamas in Frankreich geworden ist, was die Spannungen weiter verschärft.“

Ihr Vorsitzender, Jean Luc Mélenchon, hat die französischen Juden als arrogante Minderheit bezeichnet, die den Rest der Welt belehren will, antiisraelische Randalierer gefeiert, nachdem sie eine Synagoge gestürmt hatten, und Israel als Kolonialstaat bezeichnet. Unter seiner Führung hat die neue Volksfront die Palästinenser zu ihrer öffentlichen Debatte gemacht und bezeichnet selbst den Angriff der Hamas vom 7. Oktober als legitime Aktion. Laut Bericht der Universität Tel Aviv und der Anti-Defamation League verzeichnet Frankreich einen Anstieg der antisemitischen Vorfälle von 436 im Jahr 2022 auf 1.676 im Jahr 2023, was eine neue Dynamik darstellt. 74 Prozent dieser Vorfälle ereigneten sich nach dem 7. Oktober.

Und so ist aktuell jeder Jude in Frankreich mit dem Dilemma konfrontiert, wegen Antisemitismus das Land verlassen zu müssen. Die Frage ist: Wohin gehen? Israel, das für die Erfüllung jüdischer Selbstbestimmung steht, ist eine offensichtliche Wahl, aber für viele bleiben die Kriegsrealitäten, hohe Lebenshaltungskosten und Integrationsprobleme sowie Sprachbarrieren ernsthafte Hindernisse. Darüber hinaus leben auch viele schon seit mehreren Generationen in Europa und haben zum kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Gefüge beigetragen. Auswandern würde nicht nur bedeuten, ihr Erbe aufzugeben, sondern auch den Kräften des Hasses und Extremismus nachzugeben. Viele argumentieren, dass ein entschiedenes Auftreten gegen Antisemitismus eine starke Botschaft sendet, dass Bigotterie ihr Leben nicht bestimmen wird.

„Die jüdische Welt ist besorgt“, sagt Yonatan Freeman, Experte für internationale Beziehungen und Medien der Hebräischen Universität in Jerusalem. „Wir haben gesehen, was in Amsterdam passiert ist, und die allgemeinen Warnungen des israelischen Sicherheitsapparats gehört, im Ausland vorsichtig zu sein. Iranische Drohungen gegen Israel und jüdische Ziele weltweit sind real. Deshalb treffen viele seit dem 7. Oktober 2023 zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen und reisen weniger.“

Der Antisemitismus-Experte erklärt, dass die Zahl der nach Israel einwandernden Juden schon vor dem aktuellen Konflikt gestiegen ist und dass dieser Trend anhalten wird. So könnten Vorfälle wie die in Amsterdam und andere aktuelle Sorgen eine weitere Emigration aus Europa auslösen. Doch trotz anhaltenden propalästinensischen Demonstrationen weist er darauf hin, dass Europa aus einer vielfältigen Bevölkerung besteht und ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Herausforderungen besitzt, vor denen seine jüdische Gemeinschaft steht. Auch sei politischer Aktivismus tief in der europäischen Kultur verwurzelt. Besonders ein Land wie Frankreich hat eine einzigartige politische Kultur, die Aktivismus, Proteste und den öffentlichen Diskurs zu zahlreichen Themen schätzt. Dies ist Teil des nationalen Ethos und ausgeprägter als in anderen europäischen Ländern. Da es in letzter Zeit selbst Ziel schwerer Terroranschläge war, sei man sich im Klaren darüber, was auf dem Spiel steht, und die Juden im Land erwarten, dass im Falle von Gewalt die Justiz schnell handeln werde.

„Natürlich kann es eine Lücke zwischen Rhetorik und Aktion geben“, weiß Freeman. „Doch angesichts der Behauptung, Europa kapituliere vor dem Antisemitismus, ist es wichtig zu beobachten, welche Maßnahmen dagegen ergriffen werden, um die Sicherheit zu gewährleisten. Außerdem gibt es zwischen der Europäischen Union und Israel gute Beziehungen und einen nachhaltigen Geheimdienstaustausch.“

Wenn Europa vermeiden möchte, „judenrein“ zu werden, müssen Strategien entwickelt werden, um dem steigenden Antisemitismus robust zu begegnen. Zwar könnten jüdische Institutionen noch besser geschützt werden, ein politischer Dialog und intensiverer offener Diskurs mit Nichtjuden zu einem besseren Verständnis und Austausch führen. Doch durch steigende Geburtenraten werden in Europa im Jahre 2050 über 75 Millionen Muslime leben, was zwischen 14 und 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen wird. Angesichts weiterer muslimischer Einwanderer, die oft von einer antisemitischen Kultur ihrer Heimatländer geprägt werden, glauben viele, wie der bekannte niederländische Autor Leon de Winter, dessen Eltern den Holocaust überlebt haben, dass das jüdische Leben in Europa in 26 Jahren der Vergangenheit angehören wird.

„Die Beziehungen zwischen Europa und den Juden waren stets schwierig“, erzählt Otto Neumann aus Tel Aviv. „Das Wiederaufleben des Antisemitismus durch rechtsextremen Nationalismus, linksextremen Antizionismus und Islamismus stellt unterschiedliche Herausforderungen dar und erfordert differenzierte Ansätze, sonst könnte die verzweifelte Liebe der Juden für den alten Kontinent bald verschwinden.“

Europa verfügt aber über Institutionen und rechtliche Rahmenbedingungen zum Schutz von Minderheiten. Auch wenn diese derzeit in vielen Fällen versagen, sollten Juden sie nutzen, um für ihre Rechte zu kämpfen und sicherzustellen, dass dieser Kontinent nicht in einen Zustand der Intoleranz abgleitet.

Für die auswanderungswilligen unter ihnen geht es nicht nur um körperliche Sicherheit, sondern auch um die emotionale Bindung an einen Ort, die Wahrung der Identität und den Wunsch, zu einer besseren Zukunft beizutragen. Das Trauma der historischen Vertreibungen und des Holocaust lastet schwer auf solchen Entscheidungen und erzeugt einen starken Impuls, sich dagegen zu widersetzen. Doch auch der Ruf des Zionismus und das Versprechen einer jüdischen Heimat bleiben stark. Für viele bietet Israel nicht nur Zuflucht, sondern auch Erfüllung.

„Wenn Europa nicht ohne Juden sein will und sein jüdisch-christliches Erbe bewahren möchte, sollte es endlich anfangen, das unmissverständlich klarzumachen, und zwar nicht nur durch Worte, sondern auch durch Taten“, fordert Neumann. „Andernfalls könnte das, was wir erleben, durchaus das Ende der europäischen Zivilisation bedeuten, wie wir sie kennen. Denn ganz nach dem amerikanischen Dichter Robert Frost ist Zuhause der Ort, an dem man dich aufnehmen muss, wenn du dorthin musst.“

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